Der
Widerspruch zwischen Tod und Leben im Panvitalismus, der sich bezieht
auf die wichtigste Erfahrungsquelle, nämlich den (eigenen) Leib,
konnte nicht bestehen. Der Gräberkult konnte ihn zwar
„beschwichtigen, aber nicht zum Schweigen bringen“ (PL, 32).
Irgendwann war die Glaubhaftigkeit der einst selbstverständlichen
Erfahrung des Lebendigen ausgeschöpft; die ständige Wiederholung
des Sterbens musste die Erfahrungsgrundlage der naiven Seinsdeutung
unterminieren.
In
der Sprache meiner Interpretation gefasst: Die Gesamtheit der
Erfahrung konnte nicht länger als Einheit gedeutet werden, sondern
um
weiterhin verstehen zu können, musste der unverständliche
Widerspruch in Begriffen abgelagert (ausgelagert?) werden. Die
Spaltung musste explizit gemacht werden:
„Soma-sema, 'der Leib –
ein Grab', so lautete (in der Orphik) die erste dualistische
Antwort auf das Problem des Todes, das nun, ebenso wie das des
Lebens, zum Problem des Verhältnisses zweier verschiedener
Entitäten, Körper und Seele, geworden war.“ (PL, 32).
Die
immer virulentere Erfahrung des Todes hatte eine strikte theoretische
Trennung der Bereiche Seele und Leib zur Folge. Das dem Leben
Entgegengesetzte musste auch theoretisch aus der Sphäre des
Lebendigen verbannt werden.
Die
Frage nach der Einheit
beider Sphären, die Frage nach einer Gesamtdeutung alles Seiende
stellte sich erneut. Dieser Aspekt der Sache, dass nämlich noch der
radikalste Dualismus nur in Köpfen von Theoretikern bestehen kann,
die beide Seiten in Einheit denken können, scheint mir bei Jonas
unterbeleuchtet. Wie schafften es die dualistischen Denksysteme, zwei
völlig unabhängige Seinsbereiche zu postulieren? Salopp
formuliert: wieso sind Dualisten nicht schizophren?
In
nahezu allen bekannten Fällen geht mit den dualistischen Systemen
das Konzept Erlösung einher. Die seelische Substanz erhält einen
eigenen Seinsbereich nur in Abgrenzung zu der weltlichen Substanz,
also die beiden werden in einen Vergleich gesetzt. Völlige
Andersartigkeit ist natürlich ausgeschlossen. In etwas müssen die
Seinsbereiche übereinstimmen. Die menschliche Seele kann sich von
dem Leib befreien; nur eine menschliche Narrative kann beide Bereiche
umfassen, und solange die Einheit dieser Narrative gesichert ist, ist
auch der Zusammenhang alles Seienden gesichert. Die ursprüngliche
Leistung, das Weltganze als Einheit zu begreifen muss nunmehr auf die
Leistung des Individuums rekurrieren, sich selbst als Einheit zu
begreifen1.
Schon hier wird deutlich wie eng Seinsdeutung und Selbstdeutung
zusammenhängen. Das Individuum versteht sich selbst zwar von
vornherein als Eins, jedoch dieses Verständnis wird erst kritisch
wenn er den Gegenpart dieser Einheit in seinem Gegenüber, im
Weltganzen nicht mehr entdecken kann. Die Welt erfährt es nicht so
integriert wie es sich selbst erfährt. Es entfremdet sich, denn es
muss seine Einheit nunmehr auf Kosten der Weltbezogenheit
zurückgewinnen. Wer ist es selbst, in dieser bedrohlichen Welt?
Erfinderisch wie es ist, beginnt es sich als Bürger zweier Welten zu
empfinden. Als Leib empfindet es sich noch als Teil der materialen
Welt; seine Seele gehört einer höheren Seinsordnung an. Die Seele
kann sich in jedem Dualismus aus dem Körper befreien und zu reiner
Teilhabe an ihrer eigentlichen Seinsordnung aufsteigen. Mit dem
Dualismus entstand auch der Jargon der Eigentlichkeit. Es ist die
Narrativität2
des Individuums, die die Grundvoraussetzung des Dualismus
gewährleistet, nämlich die Erfassung der Welt als Einheit trotz der
bis zum Äußersten strapazierten ontischen Differenz. Weil sie
narrativ die Unvergänglichkeit der eigenen Seele einholen konnten,
wurde es möglich den eigenen Körper als vergänglich zu begreifen.
Damit war der Status der unmittelbaren Erfahrung, der durch die immer
wieder hervorstechende Absurdität des Todes, jenes 'logischen'
Affront (PL, 26) fast untergraben war, vorerst gerettet. Die
theoretischen Anstrengungen, den innersten Vitalbefund in dem Begriff
der unsterblichen Seele zu verfestigen, ermöglichten es, den Tod
nicht länger als endgültig anzusehen und neutralisierten so den
Skandal des Todes. Dem Grab ist seine Absurdität genommen: statt
ewiger Widerspruch im Herzen des Seins, der auch vom prunkvollsten
Grab (Pyramiden) nicht für immer verdeckt werden konnte, ist das
Grab nun leer (PL, 34) und der Essenz des einst Lebendigen nun in
einer höheren Seinsordnung angesiedelt. In dem Vokabular meiner
Interpretation heißt das: das Individuum schafft es, über sich
selbst eine einheitliche Geschichte zu erzählen, worin seine Seele
an der Totalität des Seins teil hat. Wir werden unten sehen wie
diese Narrative in der Gnosis konkret aussah.
Der
Dualismus ist also charakterisiert durch die 'Entstehung des
unweltlichen Selbst' (PL, 33). Jonas betont die Notwendigkeit einer
dualistischen Phase:
Dualismus
ist das Bindeglied, das historisch zwischen den beiden Extremen [dem
Panvitalismus und dem Panmechanismus, K. V.] vermittelte, die wir
bisher unhistorisch einander gegenübergestellt haben: er war in der
Tat das Vehikel für die Bewegung, die den menschlichen Geist vom
vitalistischen Monismus der Vorzeit zum materialistischen Monismus
der Jetztzeit, als zu ihrem unvorsätzlichen, ja paradoxen Ergebnis,
führte: und es ist schwer zu sehen, wie der eine von dem andern her
hätte anders als auf diesem gewaltigen Umweg erreicht werden können.
(PL, 31).
Der
Weg durch den Dualismus ist unumkehrbar (PL, 35). Eine Rückkehr zum
Monismus der Urzeit ist nicht möglich3,
denn „der Dualismus war keine willkürliche Erfindung, sondern die
Zweiheit, die er zum Vorschein brachte, ist im Sein selbst
begründet.“ (PL, 36). Jeder Postdualismus muss mit dem Erbe des
Dualismus fertig werden (PL, 36).
Die
Notwendigkeit der dualistischen Phase kann natürlich von einer
kulturrelativistischen Position her in Frage gestellt werden; Jonas
muss zugestanden werden, dass zumindest für das Selbstverständnis
der abendländischen Kultur die vom Dualismus formulierte Polarität
unhinterfragbar ist. Ich glaube aber nicht, dass Jonas zum Beispiel
den Buddhismus für zurückgeblieben halten würde aus dem Grunde,
dass sich dort keine 'dualistische Revolution' im Denken ereignet
hat.
Um
die dualistische Weltsicht besser zu verstehen, wenden wir uns jetzt
dem non plus
ultra des
Dualismus zu, der von Jonas ausführlich studierten Gnosis.
1Vgl.
V. Gerhardt, Individualität, S. 70 (Nr. 2.5); S. 110 (Nr. 3.13).
2Jonas
hat den Namen Ricoeur genannt als ihn gefragt wurde, welchen
zeitgenössischen Philosophen er für bedeutend hielt. Siehe Focus 3
/ 18. Januar 1993, S.89.
3Der
integrale Monismus, den Jonas selbst anstrebt, ist der Versuch einer
expliziten Bewältigung des Dualismus, die die Polarität nicht
Rückgängig machen kann, sondern sie „in eine höhere Einheit des
Seins aufheben [will], aus der sie als Seiten seiner Realität oder
Phasen seines Werdens hervorgehen.“ (PL, 36). Jonas' Unterschied
zwischen dem vorzeitlichen, naiven Monismus und dem
postdualistischen Monismus ist aber begrifflich unscharf. Der naive
Monismus hatte seine Anomalie durch das Grab bewältigt; der
integrale Monismus bedarf theoretischer Anstrengung.
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