2.3 Der Dualismus


Der Widerspruch zwischen Tod und Leben im Panvitalismus, der sich bezieht auf die wichtigste Erfahrungsquelle, nämlich den (eigenen) Leib, konnte nicht bestehen. Der Gräberkult konnte ihn zwar „beschwichtigen, aber nicht zum Schweigen bringen“ (PL, 32). Irgendwann war die Glaubhaftigkeit der einst selbstverständlichen Erfahrung des Lebendigen ausgeschöpft; die ständige Wiederholung des Sterbens musste die Erfahrungsgrundlage der naiven Seinsdeutung unterminieren.
In der Sprache meiner Interpretation gefasst: Die Gesamtheit der Erfahrung konnte nicht länger als Einheit gedeutet werden, sondern um weiterhin verstehen zu können, musste der unverständliche Widerspruch in Begriffen abgelagert (ausgelagert?) werden. Die Spaltung musste explizit gemacht werden:
Soma-sema, 'der Leib – ein Grab', so lautete (in der Orphik) die erste dualistische Antwort auf das Problem des Todes, das nun, ebenso wie das des Lebens, zum Problem des Verhältnisses zweier verschiedener Entitäten, Körper und Seele, geworden war.“ (PL, 32).
Die immer virulentere Erfahrung des Todes hatte eine strikte theoretische Trennung der Bereiche Seele und Leib zur Folge. Das dem Leben Entgegengesetzte musste auch theoretisch aus der Sphäre des Lebendigen verbannt werden.
Die Frage nach der Einheit beider Sphären, die Frage nach einer Gesamtdeutung alles Seiende stellte sich erneut. Dieser Aspekt der Sache, dass nämlich noch der radikalste Dualismus nur in Köpfen von Theoretikern bestehen kann, die beide Seiten in Einheit denken können, scheint mir bei Jonas unterbeleuchtet. Wie schafften es die dualistischen Denksysteme, zwei völlig unabhängige Seinsbereiche zu postulieren? Salopp formuliert: wieso sind Dualisten nicht schizophren?
In nahezu allen bekannten Fällen geht mit den dualistischen Systemen das Konzept Erlösung einher. Die seelische Substanz erhält einen eigenen Seinsbereich nur in Abgrenzung zu der weltlichen Substanz, also die beiden werden in einen Vergleich gesetzt. Völlige Andersartigkeit ist natürlich ausgeschlossen. In etwas müssen die Seinsbereiche übereinstimmen. Die menschliche Seele kann sich von dem Leib befreien; nur eine menschliche Narrative kann beide Bereiche umfassen, und solange die Einheit dieser Narrative gesichert ist, ist auch der Zusammenhang alles Seienden gesichert. Die ursprüngliche Leistung, das Weltganze als Einheit zu begreifen muss nunmehr auf die Leistung des Individuums rekurrieren, sich selbst als Einheit zu begreifen1. Schon hier wird deutlich wie eng Seinsdeutung und Selbstdeutung zusammenhängen. Das Individuum versteht sich selbst zwar von vornherein als Eins, jedoch dieses Verständnis wird erst kritisch wenn er den Gegenpart dieser Einheit in seinem Gegenüber, im Weltganzen nicht mehr entdecken kann. Die Welt erfährt es nicht so integriert wie es sich selbst erfährt. Es entfremdet sich, denn es muss seine Einheit nunmehr auf Kosten der Weltbezogenheit zurückgewinnen. Wer ist es selbst, in dieser bedrohlichen Welt? Erfinderisch wie es ist, beginnt es sich als Bürger zweier Welten zu empfinden. Als Leib empfindet es sich noch als Teil der materialen Welt; seine Seele gehört einer höheren Seinsordnung an. Die Seele kann sich in jedem Dualismus aus dem Körper befreien und zu reiner Teilhabe an ihrer eigentlichen Seinsordnung aufsteigen. Mit dem Dualismus entstand auch der Jargon der Eigentlichkeit. Es ist die Narrativität2 des Individuums, die die Grundvoraussetzung des Dualismus gewährleistet, nämlich die Erfassung der Welt als Einheit trotz der bis zum Äußersten strapazierten ontischen Differenz. Weil sie narrativ die Unvergänglichkeit der eigenen Seele einholen konnten, wurde es möglich den eigenen Körper als vergänglich zu begreifen. Damit war der Status der unmittelbaren Erfahrung, der durch die immer wieder hervorstechende Absurdität des Todes, jenes 'logischen' Affront (PL, 26) fast untergraben war, vorerst gerettet. Die theoretischen Anstrengungen, den innersten Vitalbefund in dem Begriff der unsterblichen Seele zu verfestigen, ermöglichten es, den Tod nicht länger als endgültig anzusehen und neutralisierten so den Skandal des Todes. Dem Grab ist seine Absurdität genommen: statt ewiger Widerspruch im Herzen des Seins, der auch vom prunkvollsten Grab (Pyramiden) nicht für immer verdeckt werden konnte, ist das Grab nun leer (PL, 34) und der Essenz des einst Lebendigen nun in einer höheren Seinsordnung angesiedelt. In dem Vokabular meiner Interpretation heißt das: das Individuum schafft es, über sich selbst eine einheitliche Geschichte zu erzählen, worin seine Seele an der Totalität des Seins teil hat. Wir werden unten sehen wie diese Narrative in der Gnosis konkret aussah.
Der Dualismus ist also charakterisiert durch die 'Entstehung des unweltlichen Selbst' (PL, 33). Jonas betont die Notwendigkeit einer dualistischen Phase:
Dualismus ist das Bindeglied, das historisch zwischen den beiden Extremen [dem Panvitalismus und dem Panmechanismus, K. V.] vermittelte, die wir bisher unhistorisch einander gegenübergestellt haben: er war in der Tat das Vehikel für die Bewegung, die den menschlichen Geist vom vitalistischen Monismus der Vorzeit zum materialistischen Monismus der Jetztzeit, als zu ihrem unvorsätzlichen, ja paradoxen Ergebnis, führte: und es ist schwer zu sehen, wie der eine von dem andern her hätte anders als auf diesem gewaltigen Umweg erreicht werden können. (PL, 31).
Der Weg durch den Dualismus ist unumkehrbar (PL, 35). Eine Rückkehr zum Monismus der Urzeit ist nicht möglich3, denn „der Dualismus war keine willkürliche Erfindung, sondern die Zweiheit, die er zum Vorschein brachte, ist im Sein selbst begründet.“ (PL, 36). Jeder Postdualismus muss mit dem Erbe des Dualismus fertig werden (PL, 36).
Die Notwendigkeit der dualistischen Phase kann natürlich von einer kulturrelativistischen Position her in Frage gestellt werden; Jonas muss zugestanden werden, dass zumindest für das Selbstverständnis der abendländischen Kultur die vom Dualismus formulierte Polarität unhinterfragbar ist. Ich glaube aber nicht, dass Jonas zum Beispiel den Buddhismus für zurückgeblieben halten würde aus dem Grunde, dass sich dort keine 'dualistische Revolution' im Denken ereignet hat.
Um die dualistische Weltsicht besser zu verstehen, wenden wir uns jetzt dem non plus ultra des Dualismus zu, der von Jonas ausführlich studierten Gnosis.

1Vgl. V. Gerhardt, Individualität, S. 70 (Nr. 2.5); S. 110 (Nr. 3.13).
2Jonas hat den Namen Ricoeur genannt als ihn gefragt wurde, welchen zeitgenössischen Philosophen er für bedeutend hielt. Siehe Focus 3 / 18. Januar 1993, S.89.
3Der integrale Monismus, den Jonas selbst anstrebt, ist der Versuch einer expliziten Bewältigung des Dualismus, die die Polarität nicht Rückgängig machen kann, sondern sie „in eine höhere Einheit des Seins aufheben [will], aus der sie als Seiten seiner Realität oder Phasen seines Werdens hervorgehen.“ (PL, 36). Jonas' Unterschied zwischen dem vorzeitlichen, naiven Monismus und dem postdualistischen Monismus ist aber begrifflich unscharf. Der naive Monismus hatte seine Anomalie durch das Grab bewältigt; der integrale Monismus bedarf theoretischer Anstrengung.

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