2.2 Der Panvitalismus

Die Anfänge 'menschlicher Seinsdeutung' waren laut Jonas panvitalistischer Natur. Das einzige Erklärungsmuster das zur Verfügung stand war das Leben, und sämtliche Erscheinungen wurden mithin als lebendig gedeutet. Im Gegensatz zu dem, was der heutige common sense meint, war es die 'allernatürlichste Annahme' (PL, 25) dass die Welt und alles in ihr belebt ist. In der Tat lehrt die Erfahrung aus dem menschlichen Nahbereich, dass Leben die Regel ist und nicht die Ausnahme. „Erde, Wind und Wasser – zeugend, wimmelnd, nährend, zerstörend – sind alles andere als Paradigmen 'bloßen Stoffes'.“ (PL, 25). Der Anteil an eindeutig 'totem' Material ist in der urzeitlichen Erfahrung einfach zu klein, um ein Paradigma abgeben zu können.
So war der urzeitliche Panpsychismus1, auch abgesehen davon, daß er mächtigen Bedürfnissen der Seele entsprach, weithin gerechtfertigt nach Normen des Schließens und Beweisens innerhalb des zugänglichen Erfahrungsbereichs und fand sich ständig bestätigt durch die tatsächliche Präponderanz des Lebens im Nah-Horizont seines irdischen Heims. (PL, 25)
Das 'mächtige Bedürfnis der Seele' ist, dass der Mensch sich in der Welt heim fühlt und dies mit gutem wissenschaftlichen Gewissen tun kann. Zweifel an dem Grundcharakter alles Seins als Lebendiges kamen einfach nicht auf; einzelne anscheinend leblose Sachen konnten mühelos mit der allgemeinen 'Hypothese' in Einklang gebracht werden. Diese Sachlage konnte sich nur verändern durch eine beständige, eindringliche Erfahrung, die sich immer wieder der Kategorisierung unter dem Oberbegriff des Lebendigen entzog. Diese Ausnahme war der Tod. Der tote Körper stellte ein unlösbares Rätsel für unsere panvitalistischen Vorfahren dar, weil er gerade im innersten Erfahrungsbereich des Lebendigen virulent eindrang und alle Urbilder der Lebendigkeit zu widersprechen schien.
In den frühen Hochkulturen war der Tod erklärungsbedürftig. Mit großem rituellen Aufwand wurde versucht, was die Theorie noch nicht zu leisten vermochte: den Tod als natürlich anzuerkennen.
Was meint Jonas mit dem Anfang der 'Seinsdeutung'? Gewiss nicht die bloße Tätigkeit, sich etwas als seiend vor-zu-stellen, denn das tun Raubtiere auch wenn sie ihre Beute verfolgen, und diese genauso wenn sie vor jenen flieht. Das Element der Deutung, der Interpretation ist ein spezifisch humanes Ingredienz, und erfordert ein Abstraktionsniveau das erst mit der Sprache möglich wird2. Erst sprachliche Wesen können reflektieren über Eigenschaften des Seins als solches; erst sie können ein Analogon erfassen, das allgemein für alles erfahrene Seiende3 zutrifft. Unabhängig von der Tatsache, wie differenziert Seiendes in einer Kultur erfahren wurde, ob zum Beispiel zwischen Mond, Sternen und Planeten unterschieden werden konnte, ist das entscheidende Kriterium für den Anfang der Seinsdeutung die Fähigkeit zur Abstraktion (und das setzt das Gedächtnis voraus) die weit genug geht um das Ganze seiner Erfahrungen und das korrespondierende Sein als Eins zu erfassen. Dem Menschen, lebend in einer Gemeinschaft, geht es schon am Anfang aller Theorie um das Eine.
Die menschliche Seinsdeutung – und damit die Seinsdeutung überhaupt – hat also angefangen als unsere Urahnen die Gesamtheit ihrer Erfahrungen als Einheit (Totalität) zu erfassen begannen, und dieser Einheit dann Eigenschaften zuschreiben konnten. Aus diesem Verständnis von 'Seinsdeutung' als Ur-Akt des Verstehens wird verständlich warum Jonas ohne (prä)historische Untersuchung4 den Panvitalismus als Ausgangszustand menschlicher Seinsdeutung verstand.
Da wir keine überlieferten Darstellungen der 'Urphilosophie' haben, scheint es mir angebracht, sie mit unseren Begriffen zu beschreiben. Das Wesentliche an dem Panvitalismus sind dann nicht mehr das Verständnis der Welt über die Merkmale des Lebendigen (das Zeugende und Bewegende) sondern die erstmalige Leistung, die Gesamtheit der erlebten Welt unter einen Nenner zu bringen.
Diese Interpretation Jonas' geschichtlicher Darstellung erlaubt uns im Folgenden die 'Geschichte der Seinsdeutung' in beiden Modi des Genitivs zu verstehen. Wir werden mit Jonas die Kohärente Nacherzählung der quasi-dialektischen Kapriolen menschlicher Seinsauslegung schildern, und darüber hinaus die Geschichtlichkeit der Deutung selbst im Auge behalten. Dieser Hinweis auf die Geschichtlichkeit soll nicht zu einem historischen Relativismus führen, sondern eine Sensibilität in Hinblick auf die Möglichkeiten unseres Verstehens vermitteln.
Jonas' Anspruch ist, eine gewisse Notwendigkeit in der geschichtlichen Entwicklung von Seinsdeutung nachzuweisen. Ich werde versuchen, diese Notwendigkeit begrifflich etwas stärker hervorzuheben als es in seinen Aufsätzen geschieht. Damit soll Jonas nicht in ein hermetisches, hegelianisches System zurückübersetzt werden, sondern umgekehrt soll deutlich werden, wieviel von dieser Notwendigkeit der Topologie unseres Nachdenkens zuzuschreiben ist, und wieviel der tatsächlichen historischen Entwicklung.
Der Gräberkult als symbolischer Akt, die Toten in Kontinuität mit den Lebendigen und dem Lebendigen zu gedenken, konnte auf Dauer nicht mehr standhalten gegen die Versuchungen des theoretischen Geistes, den brisanten Widerspruch begrifflich zu fassen. Der Dualismus musste den Panvitalismus ablösen.

1Jonas gebraucht 'belebt' und 'beseelt' synonym. In dem Kontext anfänglicher Seinsdeutung ist er dazu auch berechtigt, denn dort gibt es noch keine ausgeprägten Begriffe von 'Leben' und 'Seele'.
2Die Frage nach den Anfängen und Ursachen menschlicher Abstraktionsfähigkeit, die evolutionär gesehen die Entwicklung der Sprache vorausgegangen sein muss, kann hier nicht untersucht werden. Wahrscheinlich hat die Spurenlese erheblich dazu beigetragen.
3Die ontologische 'Kluft' zwischen Sein und Seiendem tritt erst später zu Tage, wenn die Grammatik sich so weit entwickelt hat, dass sie die Frage nach dem Nichtsein aufwirft. Für die Rekonstruktion der Anfänge menschlicher Seinsdeutung ist die ontologische Kluft nicht wichtig.
4Jonas nennt das Gilgamesch-Epos aus dem 12. Jahrhundert v. Chr. als paradigmatischen Fall für den Panvitalismus. Der sumerische Gott-König Gilgamesch sucht rastlos nach Unsterblichkeit. Die wird ihm aber von den Göttern verweigert. Aber der Rückschluss von der in Keilschrift überlieferten Queste nach Unsterblichkeit (immerwährendem Leben) auf den Panvitalismus scheint mir unerlaubt. Das Epos lässt sich durchaus auch als eine Geschichte verstehen, in dem der fundamentale Unterschied zwischen toter Materie und lebendiger Form noch nicht theoretisch reflektiert ist, praktisch aber vorweg genommen wird. Ob das Leben in jener entfernten Vorzeit das einzige Anzeichen des Seins war können wir, trotz Nietzsche („Wir haben vom 'Sein' keine andere Vorstellung als 'Leben'. Wie kann also etwas Totes 'sein'?“ , VIII, 2[172]), nicht sagen.
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