2.4 Die Gnosis

Neben der Feststellung, die Gnosis1 ist eines der radikalsten praktischen Ausprägungen des Dualismus, gibt es noch einen Grund, sie hier etwas ausführlicher zu behandeln. Seine bahnbrechende Schriften über die Gnosis haben Jonas ein Leben lang begleitet2: 1928 reichte er seine Dissertation 'über die Gnosis' bei seinen Lehrern Heidegger und Bultmann ein; 1934 (Jonas war damals schon nach Palästina emigiert) erschien der erste Teil, 'die mythologische Gnosis'. Die Veröffentlichung des zweiten Teils musste bis 1954 warten, als Jonas, mittlerweile Gastprofessor am Carlton College in Ottawa, Kanada, aus Übersee sich damit einverstanden erklärte3. Erst 1993, in seinem Todesjahr, erschien dann posthum der zweite Teil nochmal, ergänzt mit einer Studie über Plotin und einigen wichtigen Aufsätze über die Gnosis4. Es ist diesen Umständen zu verdanken, dass unser Autor lange Zeit als 'Gnosis-Jonas' bekannt war5.
Unseren Überlegungen sei eine kurze Beschreibung 'von außen' voran geschickt, die einen Einblick gibt in den philosophischen Ruf der Gnosis:
Die Kabbalistische und die Gnostische Philosophie, bei deren Urhebern, als Juden und Christen, der Monotheismus vorweg feststand, sind Versuche, den schreienden Widerspruch zwischen der Hervorbringung der Welt durch ein allmächtiges, allgütiges und allweises Wesen, und der traurigen, mangelhaften Beschaffenheit ebendieser Welt aufzuheben. Sie führen daher, zwischen die Welt und jene Weltursache, eine Reihe Mittelwesen ein, durch deren Schuld ein Abfall und durch diesen erst die Welt entstanden sei. Sie wälzen also gleichsam die Schuld vom Souverän auf die Minister. Angedeutet war dies Verfahren freilich schon durch den Mythos vom Sündenfall, der überhaupt der Glanzpunkt des Judentums ist. Jene Wesen nun also sind, bei den Gnostikern, das phlegmata, die Aeonen, die hyle, der Demiurgos usw. Die Reihe wurde von jedem Gnostiker beliebig verlängert. Das ganze Verfahren ist dem analog, daß, um den Widerspruch, den die angenommene Verbindung und wechselseitige Einwirkung einer materiellen und immateriellen Substanz im Menschen mit sich führt, zu mildern, physiologische Philosophen Mittelwesen einzuschieben suchten, wie Nervenflüssigkeit, Nervenäther, Lebensgeister und dergl. Beides verdeckt, was es nicht aufzuheben vermag.6
Das Phänomen der Gnosis betrachten wir als Exemplifikation jener 'geschichtlichen Notwendigkeit' um die es in diesem Kapitel geht. Wir haben gesehen, dass der 'Aufschrei des Todes' als Erfahrung jeder frühen Menschengemeinschaft auf Dauer nicht durch den naiven Monismus in Zaum zu halten ist. Diese Überlegung konnte nicht durch konkrete Kulturen belegt werden. Die Entstehungsstunde des frühesten Dualismus kann nicht genau bestimmt werden, schon weil sie wahrscheinlich aus der Zeit vor der Entstehung der Schrift stammt, aus der wir ja keine Dokumente haben. Von der Gnosis hingegen, besitzen wir einen relativ gut erhaltenen Quellenbestand7. Wir folgen Jonas in seiner pragmatischen Bestimmung des Phänomens, also in seiner Definition der Sache über ein Vorverständnis, das niemals völlig gerechtfertigt werden kann. Die gefundenen Phänomene werden zwar der Definition entsprechen, sie aber nicht berichtigen können. Er ist sich dieses Abgrenzungsproblems bewusst8 wenn er die Gnosis auf ihre 'Daseinshaltung' hin untersucht. Diese Gnosis also ist die religiöse Manifestation des bislang größten dualistischen Exzesses. Die Grunderfahrung die sie verursacht hat ist nicht nur die allgemein menschliche Erfahrung der Sterblichkeit, sondern die mehr spezifische Erfahrung 'kosmischer Einsamkeit' (streng genommen ist dieser Terminus unglücklich gewählt, denn was er ausdrücken will ist gerade, dass der einsame menschliche Beobachter aufhört sich als Teil des kosmos, der Weltordnung zu empfinden). Diese Erfahrung kann in den unterschiedlichsten kulturellen Kontexten auftauchen. Jonas zitiert in diesem Zusammenhang aus Pascal's Pensées, eines der eindringlichsten Zeugnisse menschlicher Einsamkeit:
Quand je considère la petite durée de ma vie, absorbée dans l'éternité précédant et suivant, le petit espace que je remplis et même que je vois, abîmé dan l'infinie immensité des espaces que j'ignore et qui m'ignorent, je 'effraie et m'étonne de me voir ici plutôt que là, car il n'y a point de raison pourquoi ici plutôt que là, pourquoi à présent plutôt que lors. Qui m'y a mis? Par l'ordre et la conduite de qui ce lieu et ce temps a-t-il été destiné à moi? 9
Es ist die Gefahr des Nihilismus, und Jonas wird später die Grundübereinstimmung zwischen dem modernen Existentialismus und der Gnosis einsehen. Für Jonas bezeichnet 'Gnosis' eine 'Daseinshaltung', ein Vorläufer seines späteren Begriffes 'Seinsdeutung'. Indem die Gnosis eine konkrete Reaktion (die Entweltlichungstendenz) auf eine konkrete historische Lage darstellt, kann an ihr die geschichtliche Notwendigkeit der Abfolge von Seinsdeutungen illustriert werden. Der bereits vorhandene Dualismus10 musste sich, katalysiert durch die miesen Welterfahrungen, drastisch verschärfen. Über die historische Ursache der Gnosis ist die Forschung nicht einer Meinung11. Jonas geht davon aus, dass sie eine mittelbare Folge des Untergangs der griechischen Polis war:
Immer blieb wenigstens der Kosmos die große Polis für seine Bürger, die Geschöpfe, immer blieb er der vollkommene Gott. Auf den Menschen rückübersetzt: die große innerweltliche Daseinsmöglichkeit, die das Griechentum für die Eingliederung des Menschen in die Welt gewonnen hatte, blieb auch in der eingetretenen Brüchigkeit des tatsächlichen Verhältnisses theoretisch und der aufgebotenen Haltung nach ungebrochen. Demgegenüber quillt im Gnostizismus [...] etwas völlig Anderes herauf: ungeheure Daseins-Unsicherheit, Welt-Angst des Menschen, Angst vor der Welt und vor sich selbst.12
Bei der Gnosis geht es laut Jonas um eine genau abgegrenzte, spezifische 'Seinserfahrung'; hier wäre also der Ort, die Verschränkung historischer Gegebenheiten, psychologischer Auswirkungen und ontologischer Verwurzelung zu illustrieren. Der Nachweis, dass die allgemeinste Disziplin genetisch bedingt ist durch ihren historischen Kontext, kann nur lehrreich sein.
Bevor wir näher auf den Dualismus in der Gnosis eingehen, sei angedeutet, dass der andere Aspekt den ich in meiner Rekonstruktion systematisch zu berücksichtigen versuche, der geistige Akt der den Bogen überspannt und die Einheitserfahrung trotz des Dualismus wiederherstellt, unmittelbar danach behandelt wird. In dem Kontext der Gnosis geht es dabei natürlich um die Erlösung, die Befreiung des Pneuma aus dem Leib, die Hoffnung aus dem irdischen Gefängnis befreit zu werden. Bei Jonas liegt der Nachdruck nicht auf diese narrative Leistung, die zeigt wie der gnostische Dualismus gelebt wird, sondern auf die 'Seinserfahrung', die zeigt wie er zustande kommt. Vielleicht liegt das daran, dass Jonas die Gnosis in seiner Interpretation bewusst für die Philosophie salonfähig gemacht hat indem er ihr die 'mythologischen Verschroben- heiten' abgestreift hat13.

1Eine allgemeine Einführung in die Gnosis bietet Micha Brumlik, Die Gnostiker. Interessant ist, dass er wie Jonas kommend aus der Gnosisforschung zu einer Kritik an Heidegger kommt: „Noch in einer weiteren Hinsicht steht Heidegger trotz seiner orthodox christlichen Sündenlehre in der Schuld gnostischen Denkens: Jene Formen von Verfehlung und Versuchung, die für Heidegger grundsätzliche Elemente des menschlichen Lebens bilden, entbehren jedes konkreteren, ethischen Bezuges“ (S. 331).
2Zu den persönlichen Motive: Siehe Micha Brumlik, Ressentiment – Über einige Motive in Hans Jonas' frühen Gnosisbuch. In: Prinzip Zukunft, S. 113-128. Er legt u.a. dar, wie Jonas die Hoffnung in der Gnosis nicht wahrhaben wollte (wie sie z.B. im valentianischen 'Evangelium veritatis' enthalten ist, eine Schrift die im übrigen erst 30 Jahre nach Jonas' Dissertation entdeckt wurde).
3Einzelne Teile waren zuvor als Artikel publiziert.
4U.a. der Artikel 'Gnosis, Existentialismus und Nihilismus', abgedruckt im ZNE, S. 4-25.
5Vgl. R. Löw, Die neuen Gottesbeweise, Augsburg 1994, S. 92.
6A. Schopenhauer, Parerga I, Fragmente zur Geschichte der Philosophie, §8. Gnostiker. Diese Analogie von Schopenhauer wird auch von Jonas nachvollzogen.
7Die klassischen Texten, die Kommentare der Kirchenväter und die in 1945 entdeckte Nag-Hammadi Codices. Jonas hat diese in dem zweiten Teil seiner Gnosisarbeit berücksichtigt.
8Siehe G II, S. 328.
9Pensée 205. Vgl. 347. Zitiert in PL, S. 348. Darf man so etwas in eine andere Sprache übersetzen?
10Die Spaltung im Ursprung der Welt und deren Aufhebung ist bekanntlich bereits bei Platon belegt, etwa im Symposion 15, 189c-193d oder am Schluß der Nomoi 12; bei Empedocles heißt es: „Ein weiblicher Daimon, der die Seelen mit fremdartiger Fleischeshülle umkleidet“ (Diels/Kranz, Nr. B 126); im Christlichen Bereich lässt sich pars pro toto Epf 2,14f heranziehen: „Denn er ist unser Friede, der aus beiden eines gemacht hat...“
11Manche meinen, die Gnosis sei jüdischen Ursprungs. So Prof. Quispel in einer Diskussion mit Jonas (Siehe G II, 358). Laut Jonas ist die Gnosis entstanden 'at the fringe of judaism'; jedoch ist sie Ausdruck einer selbständigen Denkströmung: Jonas spricht von „the incipient Gnostic flood“ und „the mighty gnostic tide“(ebd). Vgl. G I, S. 74: „In den Jahrhunderten um die Zeitenwende erwuchs in den Gebieten östlich des Mittelmeeres bis tief nach Asien hinein ein neues Welgefühl – soviel wir sehen in spontaner Gleichzeitigkeit auf weitem Raume -, mit ungeheurer Macht und aller Verworrenheit des Anfangs hervorbrechend und naturgemäß nach eigenem Ausdruck ringend.“ Kurt Rudolph definiert in seinem Standardwerk die Gnosis als „eine historische Kategorie, die eine bestimmte Form spätantiker Weltanschauungen erfassen will und dabei an deren eigenes Selbstverständnis anknüpft.“(S. 64).
12G I, S. 143. Vgl „die pantheistische Illusion der Antike ist zerbrochen“ (S. 170).
13Diese Methode hat Jonas bereits in AF entwickelt. „[dass] selbst den entlegensten und metaphysischten dogmatischen Hypostasierungen irgendein konkreter ursprünglicher Erfahrungsboden zugrundeliegt.“ (S. 80). Die Dogmen müssen 'entmythologisiert' werden um sie für die Daseinsanalyse zugänglich zu machen. Der Begriff 'Entmythologisierung' wurde übrigens später von Rudolf Bultmann adoptiert. Vgl dazu: Poliwoda 2005, S. 28.

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