1.5 Ein neues Prinzip?

Die Heuristik der Furcht mag der beste Ansatz sein, über den Nahbereich hinaus zu empfinden, doch damit ist noch kein neues Prinzip gefunden. Hier fragen wir zum letzten Mal nach der Notwendigkeit von Jonas’ Verantwortungsethischen Projekt. Es könnte doch so sein, dass etwa aus der kategorischen Imperativ „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.„1 folgt, unter der Voraussetzung dass das Allgemeine sich nicht mehr auf die Gegenwart beschränkt, sondern künftige Generationen mit einschließt, dass ich das Weiterexistieren ‚echten’ menschlichen Lebens (PV, 36) in meinem Wollen mit einbeziehe. Offenbar ist diese gedankliche Ausweitung des Allgemeinen für Jonas keine Lösung. Das liegt daran, dass ein psychologisches Element (bei Kant die Maxime) fehlt. Statt dessen sind es die Wirkungen, die der Einzelne nicht überblicken kann, die bei Jonas der Permanenz echten menschlichen Lebens nicht widersprechen dürfen. Das Prinzip von Jonas geht also deutlich über das individualethische Gebot hinaus.
An dieser Stelle sei nochmals bemerkt, dass jede Ethik sich immer an Individuen richten muss. Jonas würde das natürlich zugeben. In dem ‚Prinzip Verantwortung’ ging es ihm um den Beweis seines Prinzips. Das Problem, wie sich ein Individuum zu dem 'Prinzip Verantwortung' verhält, wird uns später noch beschäftigen2. Doch auch wenn als Grundlage der neuen Zusatzethik die überlieferten Prinzipien ausscheiden müssen, bleibt die Frage offen, ob die Heuristik der Furcht ein zuverlässiger Leitfaden für uns ist.
Es könnte so sein, dass die Reflexion über die neuartigen Phänomene uns keine neuen Prinzipien verschafft, sondern uns endgültig um jede Orientierung hilft. Wenn die Furcht gleichzeitig eine Notwendigkeit ihres Objekts annehmen muss (und das ist eben die Neuartigkeit der Lage), kann sie leicht in Fatalismus verfallen, und jede Gegenkraft der Tradition verliert dann ihre Autorität. Die Furcht darf darum nicht total werden, und um das zu verhindern bedarf es eines Prinzips, das eben durch diese Furcht gefunden werden muss, jedoch mit andern Mitteln begründet, denn nicht die Furcht, sondern das Prinzip muss auf die Ethik der kollektiven Praxis übertragen werden. Die von Jonas unterstellte – und von uns mit hermeneutischen Vorzeichen nachvollzogene – Eigenständigkeit der Technologie und somit der von ihr definierten Praxis nötigt ihn zu einer Begründung die über die Praxis hinaus reicht. Wenn das schicksalhafte Geschehen der Technologie die altehrwürdigen Regeln der Praxis, bis hin zu dem Bild des Menschen, überholen kann, reicht auch eine grundsätzliche Reflexion über die Praxis nicht mehr aus, zuverlässige Prinzipien für sie zu definieren. Der endgültig entfesselte Prometheus hat seine Eigengesetzlichkeit – ihm ist aber an den Menschen nichts gelegen. Wir können ihn in der Theorie nur bezwingen, so mag Jonas gedacht haben, indem wir zurückgehen auf das, was uns alle zugrunde liegt, nämlich auf das Sein. Das neuartige Prinzip bei Jonas kann folglich nicht anders als ontologisch begründet werden. Wenn die Technologie unser Dasein gefährden kann, muss im Gegenzug aus dem Sein selbst eine Pflicht abgeleitet werden, es so weit nicht kommen zu lassen. Ich habe diese Absicht von Jonas so verstanden, dass die gesuchte Seinsdeutung immer schon in einer Selbstdeutung eingebettet ist. Nur daraus können Rechtfertigungsgründe, und folglich auch Gebote abgeleitet werden: die Sanktion ist das Fehlschlagen der Selbstdeutung, oder mindestens der Verlust ihres rationalen Charakters. Die Rolle der Philosophie ist es, eine rationale Selbstdeutung vorzuschlagen, oder kulturkritisch zu zeigen, dass die geläufige Selbstdeutung in ihren Konsequenzen nicht rational ist.
Jonas’ neues Prinzip einer Verantwortung gegenüber der Menschheit als Ganzes könnte sich als sinnvoll erweisen, nämlich wenn es das Selbstverständnis der Individualethik erweitert um jenes Stück, das nötig ist um in der neuartigen Realität angemessen ethisch argumentieren zu können. Die Figur des ontologischen Beweises könnte sich als sinnvoll erweisen, wenn gezeigt wird, dass sie zu einer rationalen Selbstdeutung führt, die uns gegen technologischen Hybris schützt.

1Kant, Kritik der praktischen Vernunft, §7, A54.
2Siehe Teil III, wo Jonas' ontologischer Beweis problematisiert wird, und IV, wo ich versuche, die Ethik aus Jonas' Philosophie der Biologie zu entwickeln.

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