1.4 Die "Heuristik der Furcht" als Kompass

Man darf nicht erst die Aussichten bewerten und daraufhin beschließen, ob man was tun soll oder nicht. Sondern umgekehrt, man muss die Pflicht und die Verantwortung erkennen und so handeln, als ob eine Chance da wäre, sogar, wenn man selber sehr daran zweifelt“1 Das sagt Jonas in einem Interview, und es zeigt die Verschiebung von der hermeneutischen Lage der Ethik, die er sowohl diagnostiziert als auch befürwortet. Heuristik ist in diesem Fall nicht Kasuistik; es geht nicht darum, ein Prinzip zu erproben, sondern eins zu finden. Es scheint merkwürdig, dass wir gerade auf diesen Aspekt seines Denkens so großen Wert legen, ist doch sein Prinzip Verantwortung sehr klar ausbuchstabiert2. Gerade in dieser Aufforderung zu einer Heuristik der Furcht liegt aber das Neuartige seiner Ethik, um das es uns hier in diesem ersten Anlauf geht. Hier zwingt die Radikalität womit unsere Lebenswelt sich geändert hat, und die wir als hermeneutische Notwendigkeit des Begriffs Kollektivhandlung gedeutet haben, zu einer Ergänzung der Ethik. Erstmals wird aktiver Spürsinn in ethicis zum Gebot3. Die Prinzipien der Ethik kommen weder von oben, noch können sie aus reiner Vernunft hergeleitet werden. Streng genommen ist die hermeneutische Lage also aussichtslos. Was wir von einer Reflexion auf sie erhoffen können, ist kein fundamentum inconcussum der Ethik, sondern eine Selbstaufklärung und eine starke Empfehlung an jedes Vernunftwesen, seine Verantwortung für das Weiterexistieren seiner Gattung wahrzunehmen.
Doch warum gerade die Furcht? Jonas geht schlichtweg davon aus, dass „es nun einmal [so] mit uns bestellt [ist]: die Erkennung des malum ist uns unendlich leichter als die des bonum; sie ist unmittelbarer, zwingender, viel weniger Meinungsverschiedenheiten ausgesetzt und vor allem ungesucht: die bloße Gegenwart des Schlimmen drängt sie uns auf, während das Gute unauffällig da sein und ohne Reflexion (zu der wir besonderen Anlaß haben müssen) unerkannt bleiben kann.“ (PV, 63-64). Er macht also eine bestimmte anthropologische Annahme, die uns erst den Leitfaden verschaffen kann, den wir brauchen um uns überhaupt ethisch zu der Zukunft unserer Gattung verhalten zu können. Diese Annahme könnte natürlich falsch sein, und es könnte so sein, dass Furcht, Jonas’ eigenen Erläuterungen zum Trotz, in Ängstlichkeit verkehrt und das Gegenteil bewirkt von dem, wofür wir sie einsetzen wollen, nämlich die Selbstvernichtung statt der Selbstauslegung. Außerdem geht es bei der Heuristik der Furcht nicht um ‚die bloße Gegenwart des Schlimmen’, sondern muss diese durch ‚wohlinformierte Gedankenexperimente’ (PV, 67) erst vorgestellt werden. Jonas denkt hier an Aldous Huxley’s ‚Brave New World’.
Dass Jonas recht hat, indem er auf die Furcht setzt, können wir hier nur unterstellen. Da es uns hier nur um die Neuartigkeit der Zusatzethik für die technologische Zivilisation geht, können wir diese Frage auf sich beruhen lassen. Aus der Perspektive unserer Lesart der Selbstdeutung lässt sich der Leitfaden der Furcht erklären. Furcht ist die Anstrengung, eine zukünftig vorgestellte Situation als Verschlimmerung der heutigen zu interpretieren. Die Heuristik der Furcht beginnt mit diesem Vorstellen einer furchtbaren Zukunft. Diese Anstrengung fragt nach unserem positiven Wert, den sie Bewahren will. Offenbar ist das für die Selbstinterpretation günstiger als der umgekehrte Vorgang, nämlich der Gedanke der Utopie4. Wo die Utopie sich auf den Aspekt der Verbesserbarkeit konzentriert, rückt die Heuristik der Furcht das zu Bewahrende in den Vordergrund. Natürlich muss jede Utopie sich in Kontinuität mit der Gegenwart denken, und jeden vorgestellten Garten Eden mit Wesen bevölkern die wir Heutige gerne sein möchten – doch dieses vage Wunschbild genügt nicht mehr in einer Zeit wo die Entscheidungsfähigkeit des Menschen eine sorgfältig gehegte Illusion ist. Für die klassische Utopie galt, egal wie vollständig sie sich realisieren würde, dass der Mensch und seine Bedürfnisse ein konstanter Faktor waren. Der modernen Utopie fehlt es an dieser Grundsicherheit. Durch die Eigengesetzlichkeit der Technologie und die kollektive Praxis ist die Selbstverständlichkeit, dass es letztlich doch um den Menschen geht, in Frage gestellt. Wir gelingen, laut Jonas, nur zu ihr zurück, indem wir uns aktiv mit Unheilsprophezeiungen befassen:
„Erst die vorausgesehene Verzerrung des Menschen verhilft uns zu dem davor zu bewahrenden Begriff des Menschen.“ (PV, 8)
Die Heuristik der Furcht verstehe ich also als die Art und Weise, durch etwas, das wir von uns selbst sehr gut verstehen, nämlich die Emotion der Furcht, einen Zugang zu etwas zu gewinnen, was wir leicht verkennen könnten, nämlich zu dem zu bewahrenden Begriff des Menschen5.

1Dem bösen Ende näher, S. 23.
2„Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“, oder „Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein.“ (PV, 36).
3Etwa zwanzig Jahren vor Jonas schrieb Günther Anders in dem ersten Band der ‚Antiquiertheit des Menschen’, dass unser Zeitalter durch die Unfähigkeit zur Angst bestimmt ist (S. 264). Obwohl es Anders einzig geht um die Apokalypse und unsere Blindheit vor ihr, und nicht um die schleichende und größere Gefahr eines langsamen Verschwimmens der Menschheit (was Jonas bei einer weniger wohlwollenden Lesung auch vorgeworfen werden kann), ist seine Intuition wertvoll. Wenn Anders schreibt, dass Roosevelt in seinem Katalog der Freiheiten statt „Freedom from Fear“ „Freedom to Fear“ aufnehmen müsste (S. 266) und die Förderung der moralischen Phantasie (S. 273) befürwortet, nimmt er Jonas’ Heuristik der Furcht vorweg. „Wenn es unser Schicksal ist, in einer (von uns selbst hergestellten) Welt zu leben, die sich durch ihr Übermaß unserer Vorstellung und unserem Fühlen entzieht und uns dadurch tödlich gefährdet, dann haben wir zu versuchen, dieses Übermaß einzuholen„ (S. 274).
4Jonas hat sich ausführlich mit dem Utopiegedanken auseinander gesetzt, wie er sie in den Schriften von Ernst Bloch fand. Dass er Bloch zu Recht Unverantwortlichkeit vorwirft, lässt sich anhand des Kapitels „Wille und Natur, die technische Utopien“ in ‚Das Prinzip Hoffnung’ nachvollziehen. Für Bloch steht die Natur uns prinzipiell zur Verfügung: „Natur ist kein Vorbei, sondern der noch nicht geräumte Bauplatz, das noch gar nicht adäquat vorhandene Bauzeug, für das noch gar nicht adäquat vorhandene menschliche Haus. Die Fähigkeit des problemhaften Natursubjekts, dieses Haus mitzubilden, ist eben das objektiv-utopische Korrelat der human-utopischen Phantasie, als einer konkreten“ (S. 807). Zwar spricht Bloch von einer ‚Verhäßlichung’ durch die ‚Maschinenwelt’ (S. 808), jedoch schreibt er die Schuld dafür einzig dem Kapitalismus zu, wegen dem „schlecht vermittelten, abstrakten Verhältnis der Menschen zum Materiellen Substrat ihres Handelns“. Umgekehrt führe das „zwischenmenschliche Konkretwerden, das ist, soziale Revolution“ (S. 813) von selbst zur Lösung aller Probleme die die Technik verursacht. „Ebenso wird die blinde, katastrophenhaltige Notwendigkeit im sozialen wie psychischem Gebiet durch Vermittlung mit den Produktivkräften hier wie dort gebrochen. Hier, indem dies Menschen Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung werden, das heißt mit sich vermittelt als erzeugendem Subjekt der Geschichte; dort, indem wachsende Vermittlung mit dem bisher dunklen Erzeugungs- und Bedingungsgrund der Naturgestze geschieht“ (S. 816). Der prima facie Glaube an diese Vermittlung unterscheidet ihn von Jonas. Es ist von Bloch nicht zu erwarten, dass er ein Problembewusstsein im Bereich Technikfolgen entwickelt, wenn er spricht von dem „Einbau der Menschen (sobald sie mit sich sozial vermittelt worden sind) in die Natur (sobald die Technik mit der Natur vermittelt worden ist.) Verwandlung und Selbstverwandlung der Dinge zu Gütern, natura naturans und supernatura statt natura dominata: Das also meinen die Grundrisse einer besseren Welt, was konkrete Technik angeht.“ (S. 817). Jonas hat völlig recht, wenn er den Utopismus dadurch kritisiert, dass es ihm prinzipiell schwerer ist als die Ethik der Verantwortung, die Grenzen des Fortschritts zu denken, bevor es zu spät ist (PV, 327ff, hier 330).
5Die Bemerkung, Jonas’ Kritik sei voreilig, und die Hoffnung würde ‚völlig außer Kraft gesetzt’ (Höffe, Moral als Preis der Moderne, S. 88) wird Jonas nicht gerecht. Jonas kritisiert die ungehemmte Hoffnung, und muss deshalb eine der Hoffnung vorausgehenden Pflicht formulieren, so in mehreren Interviews (Dem bösen Ende näher, S. 23, S. 39, S. 83). Es kommt ihm darauf an, die Möglichkeit der Hoffnung zu bewahren.

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