1.3 Das Versagen bisheriger Ethik

Bei alledem könnte es doch so sein, dass die tradierte Ethik der Lage gerecht werden kann, wenn sie sich von innen aus konsequent weiterentwickelt, und ihr also kein neuartiges Prinzip von außen hinzugefügt werden müsste. Jonas muss zeigen, dass der traditierten Ethik etwas grundsätzliches felht. Um dies nachzuvollziehen, beginnen wir bei Jonas’ Charakterisierung von ‚aller bisherigen Ethik’.
Die tradierte Ethik bezog sich nur auf den zwischenmenschlichen Bereich des Handelns; der ganze Bereich der Technik war ‚ethisch neutral’. Jonas erklärt das dadurch, dass die Natur als eine in ihrer Integrität nicht zu schadende Ordnung im Ganzen verstanden wurde, die natürliche Voraussetzung für jede Ethik war, aber worauf ethische Ge- und Verbote sich umgekehrt nicht beziehen konnten. Da die Ziele der techne außerhalb ihrer lagen, mussten sie nicht bei der ethischen Beurteilung veranschlagt werden. „Wirkung auf nichtmenschliche Objekte bildete keinen Bereich ethischer Bedeutsamkeit“ (PV, 22). Außer der konstanten Natur war auch der Mensch eine unveränderliche Größe, und nicht selbst Objekt der Technik. Auch hier konnte die Technik nicht an das Wesen des Zwischenmenschlichen rütteln.
Jonas erwähnt als weiteres Charakteristikum der bisherigen Ethik die zeitliche sowie räumliche Nähe zu ihrem Gegenstand. Zeitlich, weil Maxime sich immer nur auf Zeitgenossen beziehen: „In all diesen Maximen [sind] der Handelnde und der „Andere“ seines Handelns Teilhaber einer gemeinsamen Gegenwart.“ (PV, 23). Räumlich, weil eine Handlung keine Fernwirkungen haben konnte, bzw. diese das ethische Selbstverständnis nicht beeinträchtigen konnten. Ich kann Ethik verstehen als eine Regelung für Handlungen in meinem Nahbereich, auch wenn diesen Bereich durch die Handlung eines weit entfernten bösen Tyranns beeinflusst wird. An den Begriff der Sittlichkeit vermochte dieser Tyrann nicht zu rütteln. „Alle Sittlichkeit war auf diesen Nahkreis des Handelns eingestellt.“ (PV, 23). Dadurch reichte die moralische Intuition, um zu bestimmen, was richtig war, wie Jonas mit Bezug auf Kant feststellt1.
Dass gegenwärtig prinzipiell andere Anforderungen an eine Ethik gestellt werden, haben wir oben dargestellt. Doch es könnte so sein, dass die bisherige Ethik diese auf ihre Weise bewältigen kann. Dass in den überlieferten Schriften zur Ethik nicht über Fernwirkungen und sittlichen Eigenwert nichtmenschlicher Gegenstände gesprochen wird, könnte einfach daran liegen, dass es dazu schlicht keinen Anlass gab.
Ich glaube, Jonas meint einen tiefer greifenden Grund für das Versagen bisheriger Ethik, und der hat etwas mit einer prinzipiellen Orientierungslosigkeit zu tun. Diese Orientierungslosigkeit ist die Unfähigkeit, letzte Fragen zu beantworten. Die letzte Frage ist für Jonas die Frage nach dem Vorrang des Seins über das Nichts (PV, 100), oder als zu beweisender Imperativ formuliert‚ der Satz, ‚dass eine Menschheit sei’ (PV, 91). Diese Orientierungslosigkeit spielte in der neuzeitlichen Aufklärung eine methodische Rolle, nämlich als Verzweiflung (so bei Descartes). Für die praktische Philosophie hatte diese Frage keine Bedeutung. Als in der Neuzeit aber die technischen Voraussetzungen zur Selbstzerstörung der Menschheit erfüllt wurden, änderte sich laut Jonas etwas Wesentliches. Unser Handeln konnte Einfluss nehmen auf die Bedingungen der Ethik, und ihren Geltungsgrund somit untergraben. Das heißt, dass Philosophen, die die Ethik begründen wollen, auf eine ontologische Begründung angewiesen sind. Daraus, dass menschliches Tun seine eigene Existenz zunichte machen kann, „ergibt sich, daß das erste Prinzip einer ‚Zukünftigkeitsethik’ nicht selber in der Ethik liegt als einer Lehre vom Tun (wohin im Übrigen alle Pflichten gegen die Zukünftigen gehören), sondern in der Metaphysik als einer Lehre vom Sein, wovon die Idee des Menschen ein Teil ist (PV, 92).
Jonas gibt zu, dass er es sich mit diesem Weg besonders schwer macht, indem er gegen eine Grundüberzeugung der Moderne verstößt: er muss sich den Einwand eines naturalistischen Fehlschlusses gefallen lassen. Er will aus der Tatsache, dass etwas (nämlich die Menschheit) in bestimmter Weise ist, ableiten, dass sie sein soll. Anders ausgedrückt, ein ‚Seinsollen’ der Welt muss nachgewiesen werden um die Ethik zu begründen. Nun ist eine solche ontologische Annahme nicht strikt notwendig (man widerspricht sich nicht, wenn man aus Prinzipiensparsamkeit das Wollen und das Sollen vollständig subjektiviert). Es geht Jonas aber auch darum, einen Schritt weiter zu tun als die Logik. Logische Gründe allein können die Ethik nicht von ihrer Orientierungslosigkeit befreien2, denn logisch gesehen besteht kein Widerspruch in der Selbstaufhebung der Menschheit3.
Dass eine metaphysische Begründung schlagkräftiger ist, scheint mir, gegeben die historisch gewachsene Metaphysikfeindlichkeit unserer Zeit aber auch unsicher. Daher schlage ich vor, Jonas’ metaphysische Argumentation als einen Versuch über das Selbstverständnis des Menschen im technologischen Zeitalter zu interpretieren. Ausgehend von der empirischen Beobachtung der hermeneutischen Notwendigkeit des Begriffs der kollektiven Handlung (siehe 1.2), von einer Änderung eines Aspektes der Selbstinterpretation also, tut eine Reflexion über das Selbstverständnis4 überhaupt Not. Anstatt von einer metaphysischen Begründung der Ethik zu reden, möchte ich Jonas’ Beweis als einen Versuch interpretieren, das unaufhaltsam wandelnde praktische Selbstverständnis des Menschen mit der Vernunft in Einklang zu bringen. Gegen der positivistischen Auffassung, dass Ethik letztendlich auf willkürliche Annahmen basiert, und die Vernunft daher in ihr nicht ihre Vollendung finden kann, möchte ich durch eine Interpretation von Jonas’ Wertontologie zeigen, dass unser Selbstverständnis als Vernunftwesen durch einen gewissen Begriff von objektiven Zwecken gefördert wird. Dadurch, dass ich Jonas’ ontologische Argumente unter den anthropologischen Vorbehalt stelle, und sie so als ein für unsere Zeit angemessenes Selbstverständnis deute, gebe ich den Anspruch auf Letztbegründung auf. Eine Beschreibung eines angemessenen Selbstverständnisses kann bestenfalls eine Empfehlung sein. Statt als einer ontologischen Letztbegründung, die sich leicht ins Abstrakte verlieren kann, möchte ich Jonas’ philosophische Ethik wiedergeben als ein Inventar guter Gründe für die Pflicht zur Verantwortung. Dieses Inventar muss aber möglichst vollständig sein. Darum muss dargestellt werden, was die möglichen Ursachen für Gründe sind. Gründe sind eine bestimmte Art Interpretationen von Sachverhalten. Mit anderen Worten: die hermeneutische Lage des modernen Menschen muss – im Sinne Jonas’ Philosophie – geklärt werden. Nun war Jonas’ Beobachtung die der prinzipiellen Orientierungslosigkeit der Ethik. Das Neuartige daran ist, dass sich die Ethik dessen bewusst werden muss. Eine prinzipielle Orientierungslosigkeit gab es nur in der Metaphysik, nicht in der Ethik. Ethik konnte sich entwickeln unter der Voraussetzung, dass Sein besser ist als Nicht-sein. Wenn sie aber mit derart grundsätzlichen praktischen Möglichkeiten konfrontiert wird, fehlen ihr die Worte, da sie es nicht gewohnt ist, zu verzweifeln.
Die methodische Verzweiflung in der Ethik ist also die Antwort auf die prinzipielle Orientierungslosigkeit. Sie kann keine absolute Vergewisserung leisten, aber wenigstens die Ethik davor behüten, Spielball eines Wertnihilismus zu werden, der die Vernunft auf seiner Seite ahnt. Diese methodische Verzweiflung kann aber nicht das logische Nachdenken über Sein oder Nichtsein beinhalten, sondern muss von einem konkreten Gefühl gespeist werden. Für Jonas ist das die Furcht:
Und je weiter noch in der Zukunft, je entfernter vom eigenen Wohl und Wehe und je unvertrauter in seiner Art das zu Fürchtende ist, desto mehr müssen Hellsicht der Einbildungskraft und Empfindlichkeit des Gefühls geflissentlich dafür mobilisiert werden: eine aufspürende Heuristik der Furcht wird nötig, die nicht nur ihr das neuartige Objekt überhaupt entdeckt und darstellt, sondern sogar das davon (und nie vorher) angerufene, besondere sittliche Interesse erst mit sich selbst bekannt macht. (PV, 392)

Wir wenden uns jetzt dieser Heuristik der Furcht zu.

1Kant ging so weit zu sagen, dass „die menschliche Vernunft im Moralischen selbst beim gemeinsten Verstande leicht zu großer Richtigkeit und Ausführlichkeit gebracht werden kann.“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Vorrede, zitiert nach PV, 24)
2Siehe PV, 149.
3Vittorio Hösle bringt im Kern dieses Argument gegen die Diskursethik ein in seinem Buch „Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie“. Seine Lösung ist eine Verbindung der Diskursphilosophie mit dem objektiven Idealismus. Ich versuche, Jonas mit hermeneutischer Bescheidenheit zu lesen, und das ontologische Argument in ein Argument für ein vernünftigeres Selbstverständnis umzumünzen.
4Den Terminus „kollektives Selbstverständnis“ möchte ich bewusst vermeiden. Anders als bei der Unterstellung einer kollektiven Handlung, die wie andere Handlungen durch ihre Folgen identifiziert werden kann, müsste hier eine Substanz unterstellt werden die wenig erklärt, vor allem weil dadurch leicht übersehen wird, dass Selbstverständnis nur eine individuelle Leistung sein kann.

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