1.2 Die neuartige kollektive Praxis

Wir haben vorher gesehen, dass Technologie als Prozess eine Eigengesetzlichkeit hat. Es ist für eine ethische Theoriebildung wichtig, diese anzuerkennen, jedoch kann sie nur als Rahmenbedingung, und niemals als Prämisse in einem ethischen Syllogismus funktionieren. Aus der Tatsache, dass eine bestimmte Produktionsrate eingehalten werden kann, folgt noch nicht, dass es in moralischem Sinne Pflicht sei, dies zu tun. Damit zusammenhängend ist auch die These zu stark, dass individuelles Handeln (in einigen Aspekten) erschöpfend von der Technologie determiniert wird (die Sachzwangthese)1.

Jonas weist hin auf die „kollektive Täter und die kollektive Tat“ (PV, 32) die eine Rolle spielen soll in dem neuartigen ethischen Bereich. Er hat, wie wir vorhin sahen, dargestellt, dass die Technik sich nicht nur quantitativ geändert hat, sondern dass ihr Wesen sich gewandelt hat. Wir haben diese Neuartigkeit als die Weise verstanden, worauf sie die Praxis beansprucht.
Es tut für Jonas’ Zwecke nicht zur Sache, ob man die historische Trennlinie bei der ersten oder der zweiten industriellen Revolution legt; wichtig ist, dass er in einem zweiten Schritt nachweist, dass das Aufkommen der Technologie im Sinne der oben besprochenen Verselbständigung der Technik, auch eine qualitativ veränderte Praxis impliziert. Denn es könnte so sein, dass die neuen Bedingungen des Handelns das Wesen der Praxis nicht ändern. Dass wir viel mehr Macht haben (PV, 59), dass viel mehr in unsere Macht gekommen ist, und wir viel mehr davon Missbrauch machen können ist an sich noch keine qualitative Änderung der Praxis. Das Wesen der Ausübung der Macht müsste sich ändern. An dieser Stelle kann die Antwort natürlich nicht sein, dass eben „das Übermaß an Macht [...] dem Menschen diese Pflicht auferlegt.“ (TME, 47). Eine neuartige Pflicht zur Verantwortung müsste nachgewiesen werden, und darf daher nicht vorausgesetzt werden. Das Ausüben der Macht muss in einem anderen Sinne neuartig sein. Jonas selbst weist auf „die innere Mehrdeutigkeit des technischen Tuns“ (TME, 43), auf die Zwangsläufigkeit der Anwendung (TME, 44), und die schlichte Größe der Ausmaße in Raum und Zeit (TME, 45) hin. Mir scheint das in der Tat eine neue Qualität zu sein. Unter bestimmten Voraussetzungen, denn an sich sind diese Merkmale schon mit dem Anfang der technischen (noch nicht technologischen) Praxis gegeben.
Ich interpretiere Jonas’ Beobachtungen als eine qualitative Änderung in der Ausübung der Macht. Die Macht, die wir ausüben ist nicht mehr eindeutig ‚unsere’ Macht. Als es die moderne Technologie noch nicht gab, konnten sämtliche Folgen einer individuellen Handlung als Folgen ebendieser Handlung identifiziert werden. Natürlich gab es auch unabsehbare Folgen, aber diese konnten als Naturgeschehen ausgelegt werden, weil die Auswirkungen der menschlichen Freiheit sich leicht davon abgrenzen ließen. Gedanklich war die Ausübung der Macht von dem Weltgeschehen abzugrenzen. Das heißt: indem man den Handlungszusammenhang so interpretierte geriet man nicht in Widerspruch mit seiner Welterfahrung, da das Reich der Freiheit und jenes der Notwendigkeit sich klar unterscheiden ließen.
In der modernen Technologie nun, so verstehe ich Jonas’ Charakterisierung der Neuartigkeit, sei dies nicht mehr möglich. Ein notwendiger Faktor in unserer Weltauslegung ist die kollektive Praxis. Ein kollektives Subjekt2 müsste dann unterstellt werden, wenn sehr viele Individuen handeln, die Handlungsfolgen aber von ihnen getrennt sind, d.h. nicht mehr reflexiv nachvollzogen werden können als Folgen der jeweils individuellen Tat. Ein gutes Beispiel dafür ist die Emission von Treibhausgasen und der Klimawandel. Diese kann nicht auf einzelne Verursacher zurückgeführt werden, noch als Naturgeschehen interpretiert werden, ohne die Welterfahrung selbst zu erschüttern. Dies wird hier kurz angedeutet, um die von Jonas beobachtete Neuartigkeit nachvollziehen zu können. Die Annahme, unter der sie gilt, ist dass Individuen, die allein Adressat einer neuen Theorie der Verantwortung sein können, zwangsläufig für ihre Weltauslegung den Begriff eines kollektives Subjekts benötigen. Jonas selbst spricht von der ‚Zwangsläufigkeit der Anwendung“ neuer Technik (TME, 44). Ich möchte hier interpretativ ergänzen, dass es geht um die Tatsache, dass jene Zwangsläufigkeit in dem Technologiezeitalter erstmals bewusst geworden ist. Das Neuartige der Praxis ist, dass Individuen erstmals ihre Welt so interpretieren müssen, dass ein Kollektivsubjekt darin handelt. Wir müssen erstmals unser Handeln als Teil einer kollektiven Handlung interpretieren, die ihrerseits von dem Naturgeschehen abgegrenzt werden kann.
Für Jonas selbst ist die Neuartigkeit der kollektiven Praxis bekanntlich Ausgangsthese seines Hauptwerkes:
Das Zutreffen der Voraussetzungen, nämlich daß das kollektiv-kumulativ-technologische Handeln nach Gegenständen und Abmaßen neuartig und daß es nach seinen, von allen direkten Absichten unabhängigen, Wirkungen ethisch nicht mehr neutral ist, haben wir im Vorangegangenen gezeigt. Damit aber fängt die Aufgabe, nämlich nach einer Antwort zu suchen, eigentlich erst an. (PV, 58).

1Ebd., S. 194.
2Ich möchte das ‚kollektive Subjekt’ nicht als suprapersonale Substanz, sondern als hermeneutisch notwendiger Aspekt der individuellen Weltauslegung verstehen.   

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