1.6 Zusammenfassung und Überleitung


Wir haben skizziert was laut Jonas eine Ethik für die technologische Zivilisation leisten muss, und wie sie begründet werden kann. Unsere durch die Technologie veränderte Welt wirft uns in eine neuartige Praxis hinein, deren Regeln nicht von der tradierten Ethik aufgestellt werden können. Der Kompass ist die geahnte Gefahr, die zugleich unser zu bewahrendes Menschenbild aufleuchten lässt. Als Philosoph will Jonas aber etwas mehr liefern: seine Bemühungen um eine neuartige Ethik zielen darauf ab, deren absolute Gültigkeit zu beweisen. Jonas versteht das 'Prinzip Verantwortung' ausdrücklich als Argument (PV, 10); er will etwas „härteres“ bieten, denn „was dem Thema einigermaßen gerecht werden soll, muß dem Stahl und nicht der Watte gleichen.“(ebd.).
Wir haben in diesem Kapitel Jonas’ Analyse der Neuartigkeit der Lage nachvollzogen, und fanden uns logisch dazu gezwungen, die Neuartigkeit als Merkmal unserer Interpretation zu lesen, also eine hermeneutische Subjektivierung der Argumentation vorzunehmen:
α Die Technologie muss als selbstständiger Fortschrittsprozess (1.1) interpretiert werden, der die Praxis prädisponiert;
β Die Praxis kann nicht länger vernünftig interpretiert werden ohne einen spezifisch kollektiven Bereich in ihr anzuerkennen (1.2); das Konzept der kollektiven Handlung muss die Praxis vom Naturgeschehen abgrenzen.
γ Die prinzipielle Orientierungslosigkeit ist ethisch, nicht mehr bloß metaphysisch (1.3).
δ Eine Heuristik der Furcht muss daher zum Gebot werden, und nicht mehr bloß eine Tugend sein (1.4).
ε Ein Prinzip muss ontologisch bewiesen werden, aus dem ethische Gebote für einzelne Handlungen abgeleitet werden können (1.5).
Unter welcher Bedingung können wir von der Neuartigkeit der modernen Lage sprechen? Der Prozess der Technologie muss sich über eine bestimmte Schwelle hinaus entwickelt haben, so weit nämlich, dass ihr eine Eigengesetzlichkeit unterstellt werden muss. Sie steht uns nicht zu beliebiger Verfügung (das galt schon für das Feuer) – doch die moderne Technologie kann mit einer solchen Auffassung die Welt nicht länger befriedigend verstehen.
Unsere Lesart versteht die Analyse der Technologie und ihrer Folgen also als eine Diagnose des moralischen Selbstverständnisses. Dieses muss sich mit der neuartigen Praxis wandeln. Die philosophische Aufgabe ist es, die beschriebene hermeneutisch prekäre Lage zu durchdenken, um dem moralischen Selbstverständnis, das sich an die Tatsachen anpassen muss, prinzipiell einen Vorsprung zu verleihen. Ein festes Prinzip ist dafür vonnöten.
Meine Interpretation rückt gerade durch das hermeneutische Vorzeichen das individuelle Selbstverständnis in den Mittelpunkt, und damit ein anderer Aspekt des Problems. Einzig in dem Individuum kann es Konflikte zwischen Verantwortung und Freiheit geben. Es muss geklärt werden, wie diese Konflikte von Jonas’ Prinzip her gedeutet werden müssen. Dazu muss erstens Jonas’ Verständnis von der menschlichen Freiheit aufgeklärt werden, und zweitens die ontologische Begründung der Verantwortung nachvollzogen werden.

Jonas hat in seiner philosophischen Biologie seine Überlegungen über den Begriff der menschlichen Freiheit dargelegt. Wir werden sehen, dass Jonas’ biologischer Freiheitsbegriff das idealistische Problem der Verursachung vermeidet, andererseits jedoch nicht dem Reduktionismus anheim fällt. In gewisser Weise hat Jonas seine Philosophie der Freiheit aus dem phänomenologischen Grundsatz entwickelt, zu der Erfahrung zurückzukehren. Dabei macht er es sich nicht zu leicht mit einer idealistischen Lösung, die alles dem Geist prinzipiell Fremdes aus ihrer Ontologie bannt1, sondern versucht vom Standpunkt des Materialismus her dem Phänomen der Freiheit gerecht zu werden. In Teil II werden wir also den Freiheitsbegriff der Philosophie des Organischen darstellen. Er ist die anthropologische Grundkoordinate, mit der alle Überlegungen vereinbar sein müssen. Insbesondere muss er der Ethik zugrunde gelegt werden; wir werden also in Teil III fragen, ob der in der Philosophie des Organischen entwickelten Freiheitsbegriff mit dem ontologischen Beweis im 'Prinzip Verantwortung' kompatibel ist.

1Jonas sagt, dass ein solcher konsequent durchgeführter Idealismus immer auf einen Solipsismus hinausläuft. PL, 40-41, Fußnote 2.

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