1.1.1 Formale Charakteristika moderner Technik


Moderne Technologie ist ein „Unternehmen und ein Prozeß“, nicht mehr ein „Besitz und ein Zustand“ (TME, 16) 1 Dieses Merkmal ist sicherlich ein Neues. In vormoderner Zeiten hatte Technologie nicht die Selbständigkeit als Prozess, sondern wurde in den Lebensprozessen (Ernährung, Kriegsführung) eingepasst. Ein Pflug war in erster Linie ein Ding das den Ackerbau erleichterte, ohne selbst Kriterien für ihn zu liefern. Sein Wesensgrund konnte eindeutig auf die Arbeit erleichternden Zwecke zurückgeführt werden, die man mit ihm erfüllt. Der Pflug ist eindeutig ein Werkzeug im Sinne Jonas2. Der Pflug ist das Paradigma für die vormoderne Technik, wo die einzelnen technischen Errungenschaften, reduziert werden können auf die Zwecke, denen sie dienen. Das konnte so bleiben, solange das Arsenal an Werkzeugen „ziemlich konstant“ (TME, 17) war, und Entwicklungen einfach passierten, statt bewusst veranstaltet zu werden (ebd.). Kurz: es herrschte noch nicht der Glaube an den Fortschritt (TME, 18), und es gab noch keine Methode, um ihn zu verwirklichen. Ganz im Gegenteil: das erzielte ‚Gleichgewicht’ war der eigentliche Stolz früherer Hochkulturen, bemerkt Jonas in einer Fußnote (TME, 41).
Für die moderne Technik gilt laut Jonas „das gerade Gegenteil dieses Bildes“ (TME, 19). Wir haben bereits gesehen, dass die moderne Technik sich besser als ein Prozess denn als ein Besitz oder Umstand verstehen lässt. Wir sagen nicht, dass die gegenwärtige Technik, im absoluten Unterschied zu der alten, nun plötzlich einen Prozesscharakter hat, sondern, dass dieser Aspekt der Technologie sich mit ihrer Entwicklung allmählich mehr in den Vordergrund gedrungen hat, bis eine Schwelle überschritten wurde, wo ihr Wesen nicht mehr befriedigend aus ihrer Anpassung an von ihr unabhängigen, von den Menschen gesetzten Zwecken erklärt3 werden konnte. Es kommt in erster Linie darauf an, nachzuweisen, dass das Wesen der modernen Technologie nicht nach dem alten Muster verstanden werden kann. Dafür müssen wir weiter eingehen auf die von Jonas beschriebene Neuartigkeit. Das Grundmerkmal der Prozessmäßigkeit der Technologie arbeitet Jonas weiter aus; es kommt zum Ausdruck in den folgenden drei formalen Charakteristika:
  1. Jeder neue Schritt in irgendwelche Richtung in irgendeinem technischem Gebiet [...] wird im Erfolgsfalle der Anlaß zu weiteren Schritten in alle möglichen Richtungen“ (TME, 19)
  2. Die Verbreitung der Technologie ist unvergleichbar schnell durch die Kommunikationstechnik einerseits, und den Wettbewerbsdruck andererseits (TME, 19).
  3. In moderner Technologie ist das Verhältnis von Mitteln und Zwecken „dialektisch zirkulär“ (TME, 19).
1. Das erste Merkmal des in den Vordergrund geratenen Prozesscharakters moderner Technik, ist das Fehlen eines „Sättigungspunktes“. Das Bild, das Jonas von dieser Entwicklung skizziert, ist dass jeder erfolgreiche technologische Schritt zwangsläufig alle durch ihn möglich gewordenen Folgeschritte verursacht. Das Kriterium des Erfolgs kann aber nicht mehr vorher bestimmt werden durch die Tauglichkeit ein bestimmtes Problem zu lösen, sondern liegt eben in jener Vermehrung der technologischen Möglichkeiten die aus ihr folgt. Der Erfolg der Mikroelektronik liegt nicht darin, dass man mit ihr Probleme lösen kann, die man bisher nicht lösen konnte, sondern darin, dass sie die Entwicklung neuer Technik ermöglichte, die ihrerseits Probleme löst, die bisher gar unvorstellbar waren.
Immerhin ist eine ‚konservative’ Interpretation dieses Merkmal der Technologie möglich, das die qualitative Neuartigkeit auf quantitative Faktoren zurückführt. Schon die frühesten Techniken der Menschheit, Rad und Feuer, machten vieles denkbar das bisher ungeahnt war. Durch sie folgten sicherlich schon ‚Schritte in alle möglichen Richtungen“. Der Unterschied würde bloß darin liegen, dass die Schritte heute schneller aufeinander folgen, und dass das Äquivalent von dem, was früher in Jahrhunderten heran wuchs (Ackerbau, Metallurgie, die antike Baukunst) innerhalb von einer Generation schon mehrfach überboten wird. Diese ungeheure Komprimierung der Entwicklung könnte die Ursache dafür sein, dass man in antiken Kulturen so etwas wie einen „technologischen Sättigungspunkt“ (TME, 18) empfand, während man heute insgeheim an die Unersättlichkeit glaubt. Die Konsequenz dieser kulturgeschichtlichen Komprimierung wäre, dass man einfach alles andere auch beschleunigen müsste: prognostizierte Sitten für kommende Jahrhunderte müssten vorschnell in ethische Gebote für das Individuum umgemünzt werden, das sich dann desorientiert und unreflektiert auf den gleichen Fortschrittsprozess beschränkt, dem er so erst recht Gesetzescharakter verleiht4.
Doch ich glaube, dass diese Reduktion von Qualitativem auf Quantitativem nicht zutrifft. Sie überfordert den Interpreten. Die unbedingte, metaphysische Annahme, dass alles, was möglich ist, auch realisiert werden muß, und sogar die Erwartung, dass ein Schritt immer neue Möglichkeiten entstehen lässt, diese ‚Begleitvorstellungen’ der Technologie sind doch die Ursache davon, dass man die moderne Technologie gar nicht mehr anders denn als zwangsläufigen, schicksalhaften Prozess interpretieren kann. Wer behauptet, dass was immer schon passierte, jetzt nur mit höherer Geschwindigkeit vor sich geht, verkennt die radikal veränderte Rolle der Menschen in dem Prozess der Technologie. Die Schnittmenge des technologischen Prozesses mit dem menschlichen Entscheidungsprozess ist eine andere. Entscheidungen sind nicht mehr autonom. Jedes „Ja“ und jedes „Nein“ ist in einen selbstständigen Prozess hinein gesagt, dessen Eigengesetzlichkeit ihm abzusprechen nur noch in Wahn möglich wäre. Jonas hatte recht, als er hier einen qualitativen Unterschied diagnostizierte, solange wir hinzu denken ‚für den Menschen’.

2. Die von Jonas beobachtete schnelle Verbreitung der Technologie, an der Seite des Wissens durch die Kommunikationstechnologie, an der Seite der praktischen Aneignung durch den Wettbewerbsdruck, ist einleuchtend. Betrachtet man die heutige sofortige Verfügbarkeit von beliebiger Information durch das Internet, so ist der quantitativ enorme Unterschied mit vormoderner Technik unverkennbar. Doch handelt es sich hier auch um einen qualitativen Unterschied? Wiederum möchte ich die formale Neuartigkeit anhand des bereits in Punkt eins beschriebenen Entscheidungsmoments des Menschen deutlich machen. Wir können die Ursache der schnellen Verbreitung dann so formulieren, dass in den neuen technischen Errungenschaften ein Muß der Anwendung liegt. Durch den Wettbewerbsdruck existieren Unternehmen die nicht mit der – binnen bestimmten Rahmenbedingungen – modernsten Maschinen produzieren einfach nicht mehr, weil sie vom Markt verdrängt wurden5. Die schnelle Verbreitung ist dadurch die Ursache einer neuartigen Eigengesetzlichkeit der Technologie: nämlich dass sie de facto immer schneller entwickelt und verbreitet werden muß. In kritischen Debatten steht heutzutage dieses Muß in Frage, während früher umgekehrt in kritischen Situationen das Muß erst hervortrat.

3. Das Verhältnis von Mittel und Zweck hat sich in der modernen Technologie ebenfalls revolutioniert. Es ist ein Gemeinplatz, dass der größte Teil moderner Technologie Bedürfnisse befriedigt die vor einem Jahrhundert kaum vorstellbar waren, da sie erst im Laufe der technologischen Entwicklung erzeugt oder aufgezwungen wurden. Jonas schreibt: „Zwecke, die zunächst ungebeten und vielleicht zufällig durch Tatsachen technischer Erfindung erzeugt werden, werden zu Lebensnotwendigkeiten“ (TME, 20). Dieses Merkmal des Technologieprozesses ist von dem in Punkt eins behandeltem Aspekt zu unterscheiden. Dort liegt der Grund des Fortschreitens ‚in den Sachen selbst’. Hier erzeugen technische Erfindungen neue Zwecke, und fügen somit dem Prozess eine neue Dimension hinzu, die ihn weiter beschleunigt6.
Auch hier könnte – zwecks phänomenologischer Klarheit – eingewendet werden, dass es schon in der ältesten Technik ‚dialektische’ Verhältnisse von Mitteln zu Zwecken gab. Die ‚Erfindung’ des Ackerbaus war nicht nur Anlass zu weiteren Erfindungen, etwa der Bewässerungstechnik, sondern auch Anlass zu neuartigen Zwecken, wie dauerhafte Besiedlung usw. Jedoch gilt hier das gleiche Argument oben. Die Zweck-Mittel-Ketten sind soweit in unsere Kontrolle geraten (und wir können uns dieser Kontrolle nicht entziehen!), dass das alte Paradigma der Technik als eines überschaubaren Ersatzes für den menschlichen Arbeitsaufwand, nicht mehr haltbar ist. Neue Zwecke ergeben sich nicht nur, sondern werden vom System ganz bewusst geplant und erzeugt.

Jonas fügt diesen drei Merkmalen ein viertes hinzu, das aus den ersten drei folgt und sie in gewisser Weise zusammenfasst, nämlich den Aspekt des Fortschritts. ‚Fortschritt’ ist nach Jonas nicht eine ‚Verzierung’ des technologischen Unternehmens, sondern „ein in der modernen Technologie selbst gelegener Antrieb“ (TME, 20). Jede Erneuerung ist allem Früheren überlegen. Jonas betont, dass es dabei nicht um die moralische Bewertung geht, sondern um ‚plane Tatsachenfeststellung’ (TME, 41). Nóch destruktivere Atombomben sind ihren Vorgängern zum Beispiel technisch überlegen, und stellen in diesem Sinne einen Fortschritt da, moralisch wären sie nur als Rückschritt zu verstehen. Dieser formale Fortschrittsbegriff der wiederholbaren generischen Verbesserung ist theoretisch uneingeschränkt. Der Glaube an die unendliche Verbesserung (die etwas anderes ist als die perfectibilitas, die ständige Verbesserung menschlicher Leistung innerhalb eines Genus, wobei asymptotisch einer Obergrenze genähert wird), der vielleicht einen wahren Kern enthält, ist wesentlich für den Fortschrittsbegriff. „Niemals tritt ein Halt durch interne Erschöpfung der Möglichkeiten ein“ (TME, 25).
Dieser Aspekt des der Technik innewohnenden Fortschritts ist für Jonas der zusammenfassende Terminus für das Neuartige der modernen Technologie. Die drei hier beschriebenen Merkmale, nämlich das Fehlen eines Sättigungspunktes, die de facto gezwungene Verbreitung und die dialektische Verschlingung von Zwecken und Mitteln, sind formal zu unterscheidende Aspekte dieses Fortschreitens.
Doch das unaufhaltsame Wirken der Technologie in der Welt führt zu weiteren Veränderungen, die nicht länger nur ihren formalen Aspekt betreffen. Wir wenden uns diesen jetzt zu.

1Hans Lenk nennt auch diese Prozesualität als wichtigstes Merkmal moderner Technik: „there ist a growing and accellerating importance of and orientation toward technological processes, operations, and procedures. Process control and managerial procedural phenomena are outstanding features of modern technological and industrial production and development.“ (Advances in the philosophy of technology: new structural characteristics of technologies, S. 95).
2Jonas’ Definition eines Werkzeuges lautet: „Ein Werkzeug ist ein hierfür [für den tierischen Vitalzweck, KV] hergerichtetes träges Objekt, das vermittelnd, d.h. als Mittel, zwischen das handelnde Leibesorgan (meist die Hand) und den außerleiblichen Gegenstand der Handlung zwischengeschaltet wird.“(PU, 37).
3Die Neuartigkeit der modernen Technik hat also hermeneutische Gründe, und keine ontologische. Das heißt nicht, dass sie weniger zwangsläufig sind. Die ‚absolut neuartige’ Merkmale moderner Technik könnten mit ein wenig Phantasie auch in die vormoderne Zeit hineingedeutet werden. Wenn der Mensch z.B. Tiere als Werkzeuge interpretierte und benutzte, hatten die natürlich auch eine selbständige Existenz und waren Teil eines Prozesses mit seiner evolutiven Eigengesetzlichkeit. Der Anspruch der Neuartigkeit wird augenscheinlich geschwächt wenn sie als bloßes Merkmal unserer Interpretation aufgefasst wird. Jedoch ist dies der einzige Weg, jenen phantasievollen Entkräftungsversuchen die Stirn zu bieten. Außerdem macht die Explizierung des Interpreten das Projekt dieser Untersuchung deutlich. Es geht darum, die ontologische Argumentation für die Verantwortung als rationales Argument für eine der Situation angemessene Technikdeutung zu retten.
4Es ist eine Form dieser Logik die dem Wachstumskapitalismus oder der growth economy zugrunde liegt, die nach der Wirtschaftskrise 2009 mehr kritische Stimmen nach sich zog. Vgl. Tim Jackson, Prosperity without growth (2009) und Oliver James, Affluenza (2007).
5Diese Eigengesetzlichkeit der Technologie lässt sich besonders gut illustrieren anhand moderner Industriezweigen, wo alles darauf ankommt, dass die jeweils aktuellsten Produktionsmittel im Einsatz sind.
6Christian Illies weist darauf hin, dass durch das Verständnis dieser veränderten Zweck-Mittel Stellung im 'Bezugsystem Mensch-Technik-Natur' nicht nur die Technik, sondern gerade auch das Wesen des modernen Menschen besser verstanden werden kann. Vgl. „Technik, Mensch, Natur“, in: Prinzip Zukunft, S. 275-289.

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