1.1 Die Neuartigkeit des technologischen Zeitalters

Die Rede von einer absolut neuartigen Lage mag ein gesundes Misstrauen auslösen. Strictu sensu ist Neuartigkeit, absolute „Unähnlichkeit mit dem Bisherigen“ eine logische Unmöglichkeit, nehmen wir als Interpreten doch beide in den Blick. Es scheint, dass das Konzept der Neuartigkeit evoziert wird, um die These der tatsächlich dramatischen Veränderung unserer Lebenswelt durch die Technik, dramatisch verstärkt wiederzugeben.

Auf jeden Fall muss expliziert werden, worin genau das (relativ) Neue liegt, das die Praxis um jenen Bereich ergänzt, wo die alten Prinzipien ihre Gültigkeit verlieren. Diese Nuance, von relativer Neuartigkeit zu reden, erlaubt es, die moderne Technik in seiner Genese und Kontinuität zu denken. Das könnte das Neuartige für den Menschen noch überzeugender machen, als wenn wir von einer Neuartigkeit im absoluten Sinne sprechen würden, die der Kontinuität unserer Erfahrungen widerspräche. Um konkreter über Neuartigkeit versus Kontinuität reden zu können, müssen wir unser Vorverständnis von “Technik” klären.
Bevor wir uns mit Jonas’ Phänomenologie der Technik beschäftigen, sei eine formale Definition der Technik1 vorgestellt. Der Technikphilosoph Günter Ropohl definiert Technik folgendermaßen:
Technik umfaßt:
- die Menge der nutzenorientierten, künstlichen, gegenständlichen Gebilde (Artefakte oder Sachsysteme);
- die Menge menschlicher Handlungen und Einrichtungen, in denen Sachsysteme entstehen;
- die Menge menschlicher Handlungen, in denen Sachsysteme verwendet werden.
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Bei Technik handelt es sich also um nutzenorientierte Sachsysteme. Auf den ersten Blick steht hier eine klare Definition, doch wenn man nach der genauen Bedeutung von Nutzen fragt, wird klar, dass hier begrifflich noch vieles offen ist. Natürlich geht es nicht um einen bestimmten, für immer festgelegten Nutzen, sondern hängen die von ihren Trägern ab. Diese Definition sagt eben, dass Technik von Menschen entwickelt wird die einen bestimmten Nutzen erkannt haben, der dann als Orientierung für die Entwicklung und Einsatz einer Technik dient. Für die vormoderne Technik (Pfeil, Pflug, Papyrus) ist das unproblematisch, doch bei der modernen Technik kann es zu begrifflichen Komplikationen führen. Wir werden sehen, dass bei zunehmender Eigengesetzlichkeit der Technik das Streben nach Nutzen nicht mehr alles erklärt (dass nämlich dieses Streben nicht mehr autonom ist). Dies vorweggenommen, wenden wir uns jetzt Jonas’ Phänomenologie der modernen Technik zu3.
Jonas unterscheidet zwischen formaler und materialer4 Merkmale moderner Technik. In formalem Sinne sieht er Technik als ein „fortlaufendes kollektives Unternehmen“ (TME, 15) mit einer Eigengesetzlichkeit. Jonas betrachtet das material Neue5 moderner Technik um eine „Taxonomie“ (TME, 16) der formalen Neuheiten aufzustellen, um festzulegen, ‚woran’ sie sich vollzieht. Die Neuartigkeit wird somit fast ausschließlich durch den formalen Aspekt erfasst. Fast ausschließlich, weil der Sachverhalt, dass der Mensch selbst zum Objekt moderner Technik werden kann6, offenkundig eine Neuartigkeit im Material ist.

1Das Wort „Technik“ umfasst wie auch „Apparat“ mehr als Sachen. Man denke z.B. an „Mnemotechnik“ oder „Handapparat“.
2 G. Ropohl, Technologische Aufklärung, Frankfurt/Main 1991, S. 18.
3Jonas’ Überlegungen zu einer Phänomenologie der Technik befinden sich in den ersten beiden Kapiteln von TME, und in PV, 13-58.
4Er erreicht dadurch eine gute Übersicht. Solange sich die formalen Entwicklungen an dem Prozess und nicht am Material stattfinden, lässt sich Technologie hiermit analysieren. Eine Schwierigkeit könnte die Informationstechnologie sein (die allerdings noch nicht so weit entwickelt war, als Jonas seine Analyse schrieb), wo das ‚Material’, die Information, die formalen Entwicklungen direkt beeinflusst.
5Bei Jonas gleichbedeutend mit „substantiell“ (TME,15), oder „sachlich“ (TME, 30). Wir werden öfter Synonyme und Homonyme antreffen; Jonas wird oft terminologische Laxheit vorgeworfen, was zum Teil an seinem jahrzehntelangen Leben in der Emigration liegen könnte. Auf jeden Fall lässt sich der Geist seiner Philosophie nicht unbedingt an ihrem Buchstaben ablesen, und bedarf es einer willigen Interpretationsarbeit, die m.E. nicht so sehr seine Ergebnisse deuten muss, sondern vor allem sein Problembewusstsein.
6Jonas’ Auseinandersetzung mit der Biotechnologie bespreche ich in 1.1.2.

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