Die tradierte Ethik bezog
sich nur auf den zwischenmenschlichen Bereich des Handelns; der ganze
Bereich der Technik war ‚ethisch neutral’. Jonas erklärt das
dadurch, dass die Natur als eine in ihrer Integrität nicht zu
schadende Ordnung im Ganzen verstanden wurde, die natürliche
Voraussetzung für jede Ethik war, aber worauf ethische Ge- und
Verbote sich umgekehrt nicht beziehen konnten. Da die Ziele der
techne
außerhalb ihrer lagen, mussten sie nicht bei der ethischen
Beurteilung veranschlagt werden. „Wirkung auf nichtmenschliche
Objekte bildete keinen Bereich ethischer Bedeutsamkeit“ (PV, 22).
Außer der konstanten Natur war auch der Mensch eine unveränderliche
Größe, und nicht selbst Objekt der Technik. Auch hier konnte die
Technik nicht an das Wesen des Zwischenmenschlichen rütteln.
Jonas
erwähnt als weiteres Charakteristikum der bisherigen Ethik die
zeitliche sowie räumliche Nähe zu ihrem Gegenstand. Zeitlich, weil
Maxime sich immer nur auf Zeitgenossen beziehen: „In all diesen
Maximen [sind] der Handelnde und der „Andere“ seines Handelns
Teilhaber einer gemeinsamen Gegenwart.“ (PV, 23). Räumlich, weil
eine Handlung keine Fernwirkungen haben konnte, bzw. diese das
ethische
Selbstverständnis nicht beeinträchtigen konnten. Ich kann Ethik
verstehen als eine Regelung für Handlungen in meinem Nahbereich,
auch wenn diesen Bereich durch die Handlung eines weit entfernten
bösen Tyranns beeinflusst wird. An den Begriff der Sittlichkeit
vermochte dieser Tyrann nicht zu rütteln. „Alle Sittlichkeit war
auf diesen Nahkreis des Handelns eingestellt.“ (PV, 23). Dadurch
reichte die moralische Intuition, um zu bestimmen, was richtig war,
wie Jonas mit Bezug auf Kant feststellt1.
Dass gegenwärtig
prinzipiell andere Anforderungen an eine Ethik gestellt werden, haben
wir oben dargestellt. Doch es könnte
so sein, dass die bisherige Ethik diese auf ihre
Weise bewältigen kann. Dass in den überlieferten Schriften zur
Ethik nicht über Fernwirkungen und sittlichen Eigenwert
nichtmenschlicher Gegenstände gesprochen wird, könnte einfach daran
liegen, dass es dazu schlicht keinen Anlass gab.
Ich glaube, Jonas meint
einen tiefer greifenden Grund für das Versagen bisheriger Ethik, und
der hat etwas mit einer prinzipiellen
Orientierungslosigkeit zu tun. Diese Orientierungslosigkeit ist die
Unfähigkeit, letzte
Fragen zu beantworten. Die letzte Frage ist für Jonas die Frage nach
dem Vorrang des Seins über das Nichts (PV, 100), oder als zu
beweisender Imperativ formuliert‚ der Satz, ‚dass eine Menschheit
sei’ (PV, 91). Diese Orientierungslosigkeit spielte in der
neuzeitlichen Aufklärung eine methodische Rolle, nämlich als
Verzweiflung (so bei Descartes). Für die praktische Philosophie
hatte diese Frage keine Bedeutung. Als in der Neuzeit aber die
technischen Voraussetzungen zur Selbstzerstörung der Menschheit
erfüllt wurden, änderte sich laut Jonas etwas Wesentliches. Unser
Handeln konnte Einfluss nehmen auf die Bedingungen der Ethik, und
ihren Geltungsgrund somit untergraben. Das heißt, dass Philosophen,
die die Ethik begründen wollen, auf eine ontologische
Begründung angewiesen sind. Daraus, dass menschliches Tun seine
eigene Existenz zunichte machen kann, „ergibt sich, daß das erste
Prinzip einer ‚Zukünftigkeitsethik’ nicht selber in
der Ethik liegt als einer Lehre vom Tun
(wohin im Übrigen alle Pflichten gegen die Zukünftigen gehören),
sondern in der Metaphysik
als einer Lehre vom Sein, wovon die Idee des Menschen ein Teil ist
(PV, 92).
Jonas gibt zu, dass er es
sich mit diesem Weg besonders schwer macht, indem er gegen eine
Grundüberzeugung der Moderne verstößt: er muss sich den Einwand
eines naturalistischen Fehlschlusses gefallen lassen. Er will aus der
Tatsache, dass etwas (nämlich die Menschheit) in bestimmter Weise
ist, ableiten, dass
sie sein soll. Anders
ausgedrückt, ein ‚Seinsollen’ der Welt muss nachgewiesen werden
um die Ethik zu begründen. Nun ist eine solche ontologische Annahme
nicht strikt notwendig (man widerspricht sich nicht, wenn man aus
Prinzipiensparsamkeit das Wollen und das Sollen vollständig
subjektiviert). Es geht Jonas aber auch darum, einen Schritt weiter
zu tun als die Logik. Logische Gründe allein können die Ethik nicht
von ihrer Orientierungslosigkeit befreien2,
denn logisch gesehen besteht kein Widerspruch in der Selbstaufhebung
der Menschheit3.
Dass eine metaphysische
Begründung schlagkräftiger ist, scheint mir, gegeben die historisch
gewachsene Metaphysikfeindlichkeit unserer Zeit aber auch unsicher.
Daher schlage ich vor, Jonas’ metaphysische Argumentation als einen
Versuch über das Selbstverständnis des
Menschen im technologischen Zeitalter zu interpretieren. Ausgehend
von der empirischen
Beobachtung der hermeneutischen Notwendigkeit des Begriffs der
kollektiven Handlung (siehe 1.2), von einer Änderung eines Aspektes
der Selbstinterpretation also, tut eine Reflexion über das
Selbstverständnis4
überhaupt Not. Anstatt von einer metaphysischen Begründung der
Ethik zu reden, möchte ich Jonas’ Beweis als einen Versuch
interpretieren, das unaufhaltsam wandelnde praktische
Selbstverständnis des Menschen mit der Vernunft in Einklang zu
bringen. Gegen der positivistischen Auffassung, dass Ethik
letztendlich auf willkürliche Annahmen basiert, und die Vernunft
daher in ihr nicht ihre Vollendung finden kann, möchte ich durch
eine Interpretation von Jonas’ Wertontologie zeigen, dass unser
Selbstverständnis als Vernunftwesen durch einen gewissen
Begriff von objektiven Zwecken gefördert wird. Dadurch, dass ich
Jonas’ ontologische Argumente unter den anthropologischen Vorbehalt
stelle, und sie so als ein für unsere Zeit angemessenes
Selbstverständnis
deute, gebe ich den Anspruch auf Letztbegründung auf. Eine
Beschreibung eines angemessenen Selbstverständnisses kann
bestenfalls eine Empfehlung sein. Statt als einer ontologischen
Letztbegründung, die sich leicht ins Abstrakte verlieren kann,
möchte ich Jonas’ philosophische Ethik wiedergeben als ein
Inventar guter Gründe für die Pflicht zur Verantwortung. Dieses
Inventar muss aber möglichst vollständig sein. Darum muss
dargestellt werden, was die möglichen Ursachen
für Gründe sind. Gründe sind eine
bestimmte Art Interpretationen von Sachverhalten. Mit anderen Worten:
die hermeneutische Lage des modernen Menschen muss – im Sinne
Jonas’ Philosophie – geklärt werden. Nun war Jonas’
Beobachtung die der prinzipiellen Orientierungslosigkeit der Ethik.
Das Neuartige daran ist, dass sich die Ethik
dessen bewusst werden muss. Eine prinzipielle
Orientierungslosigkeit gab es nur in der Metaphysik, nicht in der
Ethik. Ethik konnte sich entwickeln unter der Voraussetzung, dass
Sein besser ist als Nicht-sein. Wenn sie aber mit derart
grundsätzlichen praktischen Möglichkeiten konfrontiert wird, fehlen
ihr die Worte, da sie es nicht gewohnt ist, zu verzweifeln.
Die methodische
Verzweiflung in der Ethik ist also die Antwort auf die prinzipielle
Orientierungslosigkeit. Sie kann keine absolute Vergewisserung
leisten, aber wenigstens die Ethik davor behüten, Spielball eines
Wertnihilismus zu werden, der die Vernunft auf seiner Seite ahnt.
Diese methodische Verzweiflung kann aber nicht das logische
Nachdenken über Sein oder Nichtsein beinhalten, sondern muss von
einem konkreten Gefühl gespeist werden. Für Jonas ist das die
Furcht:
Und je weiter noch
in der Zukunft, je entfernter vom eigenen Wohl und Wehe und je
unvertrauter in seiner Art das zu Fürchtende ist, desto mehr müssen
Hellsicht der Einbildungskraft und Empfindlichkeit des Gefühls
geflissentlich dafür mobilisiert werden: eine aufspürende Heuristik
der Furcht wird nötig, die nicht nur ihr das neuartige Objekt
überhaupt entdeckt und darstellt, sondern sogar das davon (und nie
vorher) angerufene, besondere sittliche Interesse erst mit sich
selbst bekannt macht. (PV, 392)
Wir
wenden uns jetzt dieser Heuristik der Furcht zu.
1Kant
ging so weit zu sagen, dass „die menschliche Vernunft im
Moralischen selbst beim gemeinsten Verstande leicht zu großer
Richtigkeit und Ausführlichkeit gebracht werden kann.“
(Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Vorrede, zitiert nach PV,
24)
2Siehe
PV, 149.
3Vittorio
Hösle bringt im Kern dieses Argument gegen die Diskursethik ein in
seinem Buch „Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der
Philosophie“. Seine Lösung ist eine Verbindung der
Diskursphilosophie mit dem objektiven Idealismus. Ich versuche,
Jonas mit hermeneutischer Bescheidenheit zu lesen, und das
ontologische Argument in ein Argument für ein vernünftigeres
Selbstverständnis umzumünzen.
4Den
Terminus „kollektives Selbstverständnis“ möchte ich bewusst
vermeiden. Anders als bei der Unterstellung einer kollektiven
Handlung, die wie andere Handlungen durch ihre Folgen identifiziert
werden kann, müsste hier eine Substanz unterstellt werden die wenig
erklärt, vor allem weil dadurch leicht übersehen wird, dass
Selbstverständnis nur eine individuelle Leistung sein
kann.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen