Jonas weist hin auf die
„kollektive Täter und die kollektive Tat“ (PV, 32) die eine
Rolle spielen soll in dem neuartigen ethischen Bereich. Er hat, wie
wir vorhin sahen, dargestellt, dass die Technik sich nicht nur
quantitativ geändert hat, sondern dass ihr Wesen
sich gewandelt hat. Wir haben diese Neuartigkeit als die Weise
verstanden, worauf sie die Praxis beansprucht.
Es tut für Jonas’
Zwecke nicht zur Sache, ob man die historische Trennlinie bei der
ersten oder der zweiten industriellen Revolution legt; wichtig ist,
dass er in einem zweiten Schritt nachweist, dass das Aufkommen der
Technologie im Sinne der oben besprochenen Verselbständigung der
Technik, auch eine qualitativ
veränderte Praxis
impliziert. Denn es könnte
so sein, dass die neuen Bedingungen des Handelns das Wesen der Praxis
nicht ändern. Dass wir viel mehr Macht haben (PV, 59), dass viel
mehr in unsere Macht gekommen ist, und wir viel mehr davon Missbrauch
machen können ist an sich noch keine qualitative Änderung der
Praxis. Das Wesen der Ausübung der Macht müsste sich ändern. An
dieser Stelle kann die Antwort natürlich nicht sein, dass eben „das
Übermaß an Macht [...] dem Menschen diese Pflicht auferlegt.“
(TME, 47). Eine neuartige Pflicht zur Verantwortung müsste
nachgewiesen werden, und darf daher nicht vorausgesetzt werden. Das
Ausüben der Macht muss in einem anderen Sinne neuartig sein. Jonas
selbst weist auf „die innere Mehrdeutigkeit des technischen Tuns“
(TME, 43), auf die Zwangsläufigkeit der Anwendung (TME, 44), und die
schlichte Größe der Ausmaße in Raum und Zeit (TME, 45) hin. Mir
scheint das in der Tat eine neue Qualität zu sein. Unter bestimmten
Voraussetzungen, denn an sich sind diese Merkmale schon mit dem
Anfang der technischen (noch nicht technologischen) Praxis gegeben.
Ich interpretiere Jonas’
Beobachtungen als eine qualitative Änderung in der Ausübung der
Macht. Die Macht, die wir ausüben ist nicht mehr eindeutig ‚unsere’
Macht. Als es die moderne Technologie noch nicht gab, konnten
sämtliche Folgen einer individuellen Handlung als Folgen ebendieser
Handlung identifiziert werden. Natürlich gab es auch unabsehbare
Folgen, aber diese konnten als Naturgeschehen ausgelegt werden, weil
die Auswirkungen der menschlichen Freiheit sich leicht davon
abgrenzen ließen. Gedanklich war die Ausübung der Macht von dem
Weltgeschehen abzugrenzen. Das heißt: indem man den
Handlungszusammenhang so interpretierte geriet man nicht in
Widerspruch mit seiner Welterfahrung,
da das Reich der Freiheit und jenes der Notwendigkeit sich klar
unterscheiden ließen.
In der modernen
Technologie nun, so verstehe ich Jonas’ Charakterisierung der
Neuartigkeit, sei dies nicht mehr möglich. Ein notwendiger
Faktor in unserer Weltauslegung ist die kollektive Praxis. Ein
kollektives Subjekt2
müsste dann unterstellt werden, wenn sehr viele Individuen handeln,
die Handlungsfolgen aber von ihnen getrennt sind, d.h. nicht mehr
reflexiv nachvollzogen werden können als Folgen der jeweils
individuellen Tat. Ein gutes Beispiel dafür ist die Emission von
Treibhausgasen und der Klimawandel. Diese kann nicht auf einzelne
Verursacher zurückgeführt werden, noch als Naturgeschehen
interpretiert werden, ohne die Welterfahrung selbst zu erschüttern.
Dies wird hier kurz angedeutet, um die von Jonas beobachtete
Neuartigkeit nachvollziehen zu können. Die Annahme, unter der sie
gilt, ist dass Individuen, die allein Adressat einer neuen Theorie
der Verantwortung sein können, zwangsläufig für ihre Weltauslegung
den Begriff eines kollektives Subjekts benötigen. Jonas selbst
spricht von der ‚Zwangsläufigkeit der Anwendung“ neuer Technik
(TME, 44). Ich möchte hier interpretativ ergänzen, dass es geht um
die Tatsache, dass jene Zwangsläufigkeit in dem Technologiezeitalter
erstmals bewusst
geworden ist. Das Neuartige der Praxis ist, dass Individuen erstmals
ihre Welt so interpretieren müssen, dass ein Kollektivsubjekt darin
handelt. Wir müssen
erstmals unser Handeln als Teil einer kollektiven Handlung
interpretieren, die ihrerseits von dem Naturgeschehen abgegrenzt
werden kann.
Für Jonas selbst ist die
Neuartigkeit der kollektiven Praxis bekanntlich Ausgangsthese seines
Hauptwerkes:
Das Zutreffen der
Voraussetzungen, nämlich daß das kollektiv-kumulativ-technologische
Handeln nach Gegenständen und Abmaßen neuartig
und daß es nach seinen, von allen direkten Absichten unabhängigen,
Wirkungen ethisch nicht mehr neutral ist,
haben wir im Vorangegangenen gezeigt. Damit aber fängt die Aufgabe,
nämlich nach einer Antwort zu suchen, eigentlich erst an. (PV, 58).
1Ebd.,
S. 194.
2Ich
möchte das ‚kollektive Subjekt’ nicht als suprapersonale
Substanz, sondern als hermeneutisch notwendiger Aspekt der
individuellen Weltauslegung verstehen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen