Doch warum gerade die
Furcht? Jonas geht
schlichtweg davon aus, dass „es nun einmal [so] mit uns bestellt
[ist]: die Erkennung des malum
ist uns unendlich leichter als die des bonum;
sie ist unmittelbarer, zwingender, viel weniger
Meinungsverschiedenheiten ausgesetzt und vor allem ungesucht: die
bloße Gegenwart des Schlimmen drängt sie uns auf, während das Gute
unauffällig da sein und ohne Reflexion (zu der wir besonderen Anlaß
haben müssen) unerkannt bleiben kann.“ (PV, 63-64). Er macht also
eine bestimmte anthropologische Annahme, die uns erst den Leitfaden
verschaffen kann, den wir brauchen um uns überhaupt ethisch zu der
Zukunft unserer Gattung verhalten zu können. Diese Annahme könnte
natürlich falsch sein, und es könnte so sein, dass Furcht, Jonas’
eigenen Erläuterungen zum Trotz, in Ängstlichkeit verkehrt und das
Gegenteil bewirkt von dem, wofür wir sie einsetzen wollen, nämlich
die Selbstvernichtung statt der Selbstauslegung. Außerdem geht es
bei der Heuristik der Furcht nicht um ‚die bloße Gegenwart des
Schlimmen’, sondern muss diese durch ‚wohlinformierte
Gedankenexperimente’ (PV, 67) erst vorgestellt werden. Jonas denkt
hier an Aldous Huxley’s ‚Brave New World’.
Dass Jonas recht hat,
indem er auf die Furcht setzt, können wir hier nur unterstellen. Da
es uns hier nur um die Neuartigkeit der Zusatzethik für die
technologische Zivilisation geht, können wir diese Frage auf sich
beruhen lassen. Aus der Perspektive unserer Lesart der Selbstdeutung
lässt sich der Leitfaden der Furcht erklären. Furcht ist die
Anstrengung, eine zukünftig vorgestellte Situation als
Verschlimmerung der heutigen zu interpretieren. Die Heuristik der
Furcht beginnt mit diesem Vorstellen einer furchtbaren Zukunft. Diese
Anstrengung fragt nach unserem positiven Wert, den sie Bewahren will.
Offenbar ist das für die Selbstinterpretation günstiger als der
umgekehrte Vorgang, nämlich der Gedanke der Utopie4.
Wo die Utopie sich auf den Aspekt der Verbesserbarkeit konzentriert,
rückt die Heuristik der Furcht das zu Bewahrende in den Vordergrund.
Natürlich muss jede Utopie sich in Kontinuität mit der Gegenwart
denken, und jeden vorgestellten Garten Eden mit Wesen bevölkern die
wir Heutige gerne sein möchten – doch dieses vage Wunschbild
genügt nicht mehr in einer Zeit wo die Entscheidungsfähigkeit des
Menschen eine sorgfältig gehegte Illusion ist. Für die klassische
Utopie galt, egal wie vollständig sie sich realisieren würde, dass
der Mensch und seine Bedürfnisse ein konstanter Faktor waren. Der
modernen Utopie fehlt es an dieser Grundsicherheit. Durch die
Eigengesetzlichkeit der Technologie und die kollektive Praxis ist die
Selbstverständlichkeit, dass es letztlich doch um den
Menschen geht, in Frage gestellt. Wir gelingen, laut Jonas, nur zu
ihr zurück, indem wir uns aktiv mit Unheilsprophezeiungen befassen:
„Erst die vorausgesehene
Verzerrung des Menschen verhilft uns zu dem davor zu bewahrenden
Begriff des Menschen.“ (PV, 8)
Die Heuristik der Furcht
verstehe ich also als die Art und Weise, durch etwas, das wir von uns
selbst sehr gut verstehen, nämlich die Emotion der Furcht, einen
Zugang zu etwas zu gewinnen, was wir leicht verkennen könnten,
nämlich zu dem zu bewahrenden Begriff des Menschen5.
1Dem
bösen Ende näher, S. 23.
2„Handle
so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der
Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“, oder „Schließe
in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen
als Mit-Gegenstand deines Wollens ein.“ (PV, 36).
3Etwa
zwanzig Jahren vor Jonas schrieb Günther Anders in dem ersten Band
der ‚Antiquiertheit des Menschen’, dass unser Zeitalter durch
die Unfähigkeit zur Angst bestimmt ist (S. 264). Obwohl es Anders
einzig geht um die Apokalypse und unsere Blindheit vor ihr, und
nicht um die schleichende und größere Gefahr eines langsamen
Verschwimmens der Menschheit (was Jonas bei einer weniger
wohlwollenden Lesung auch vorgeworfen werden kann), ist seine
Intuition wertvoll. Wenn Anders schreibt, dass Roosevelt in seinem
Katalog der Freiheiten statt „Freedom from Fear“ „Freedom to
Fear“ aufnehmen müsste (S. 266) und die Förderung der
moralischen Phantasie (S. 273) befürwortet, nimmt er Jonas’
Heuristik der Furcht vorweg. „Wenn es unser Schicksal ist, in
einer (von uns selbst hergestellten) Welt zu leben, die sich durch
ihr Übermaß unserer Vorstellung und unserem Fühlen entzieht und
uns dadurch tödlich gefährdet, dann haben wir zu versuchen, dieses
Übermaß einzuholen„ (S. 274).
4Jonas
hat sich ausführlich mit dem Utopiegedanken auseinander gesetzt,
wie er sie in den Schriften von Ernst Bloch fand. Dass er Bloch zu
Recht Unverantwortlichkeit vorwirft, lässt sich anhand des Kapitels
„Wille und Natur, die technische Utopien“ in ‚Das Prinzip
Hoffnung’ nachvollziehen. Für Bloch steht die Natur uns
prinzipiell zur Verfügung: „Natur ist kein Vorbei, sondern
der noch nicht geräumte Bauplatz, das noch gar nicht adäquat
vorhandene Bauzeug, für das noch gar nicht adäquat vorhandene
menschliche Haus. Die Fähigkeit des problemhaften
Natursubjekts, dieses Haus mitzubilden, ist eben das
objektiv-utopische Korrelat der human-utopischen Phantasie, als
einer konkreten“ (S. 807). Zwar spricht Bloch von einer
‚Verhäßlichung’ durch die ‚Maschinenwelt’ (S. 808), jedoch
schreibt er die Schuld dafür einzig dem Kapitalismus zu, wegen dem
„schlecht vermittelten, abstrakten Verhältnis der Menschen zum
Materiellen Substrat ihres Handelns“. Umgekehrt führe das
„zwischenmenschliche Konkretwerden, das ist, soziale Revolution“
(S. 813) von selbst zur Lösung aller Probleme die die Technik
verursacht. „Ebenso wird die blinde, katastrophenhaltige
Notwendigkeit im sozialen wie psychischem Gebiet durch Vermittlung
mit den Produktivkräften hier wie dort gebrochen. Hier, indem dies
Menschen Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung werden, das heißt
mit sich vermittelt als erzeugendem Subjekt der Geschichte; dort,
indem wachsende Vermittlung mit dem bisher dunklen Erzeugungs-
und Bedingungsgrund der Naturgestze geschieht“ (S. 816). Der
prima facie Glaube an diese Vermittlung unterscheidet ihn von
Jonas. Es ist von Bloch nicht zu erwarten, dass er ein
Problembewusstsein im Bereich Technikfolgen entwickelt, wenn er
spricht von dem „Einbau der Menschen (sobald sie mit sich sozial
vermittelt worden sind) in die Natur (sobald die Technik mit der
Natur vermittelt worden ist.) Verwandlung und Selbstverwandlung der
Dinge zu Gütern, natura naturans und supernatura statt natura
dominata: Das also meinen die Grundrisse einer besseren Welt, was
konkrete Technik angeht.“ (S. 817). Jonas hat völlig
recht, wenn er den Utopismus dadurch kritisiert, dass es ihm
prinzipiell schwerer ist als die Ethik der Verantwortung, die
Grenzen des Fortschritts zu denken, bevor es zu spät ist (PV,
327ff, hier 330).
5Die
Bemerkung, Jonas’ Kritik sei voreilig, und die Hoffnung würde
‚völlig außer Kraft gesetzt’ (Höffe, Moral als Preis der
Moderne, S. 88) wird Jonas nicht gerecht. Jonas kritisiert die
ungehemmte Hoffnung, und muss deshalb eine der Hoffnung
vorausgehenden Pflicht formulieren, so in mehreren Interviews (Dem
bösen Ende näher, S. 23, S. 39, S. 83). Es kommt ihm darauf an,
die Möglichkeit der Hoffnung zu bewahren.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen