Unseren
Überlegungen sei eine kurze Beschreibung 'von außen' voran
geschickt, die einen Einblick gibt in den philosophischen Ruf der
Gnosis:
Die Kabbalistische und die
Gnostische Philosophie, bei deren Urhebern, als Juden und Christen,
der Monotheismus vorweg feststand, sind Versuche, den schreienden
Widerspruch zwischen der Hervorbringung der Welt durch ein
allmächtiges, allgütiges und allweises Wesen, und der traurigen,
mangelhaften Beschaffenheit ebendieser Welt aufzuheben. Sie führen
daher, zwischen die Welt und jene Weltursache, eine Reihe Mittelwesen
ein, durch deren Schuld ein Abfall und durch diesen erst die Welt
entstanden sei. Sie wälzen also gleichsam die Schuld vom Souverän
auf die Minister. Angedeutet war dies Verfahren freilich schon durch
den Mythos vom Sündenfall, der überhaupt der Glanzpunkt des
Judentums ist. Jene Wesen nun also sind, bei den Gnostikern, das
phlegmata, die Aeonen, die hyle, der Demiurgos usw. Die Reihe wurde
von jedem Gnostiker beliebig verlängert. Das ganze Verfahren ist dem
analog, daß, um den Widerspruch, den die angenommene Verbindung und
wechselseitige Einwirkung einer materiellen und immateriellen
Substanz im Menschen mit sich führt, zu mildern, physiologische
Philosophen Mittelwesen einzuschieben suchten, wie Nervenflüssigkeit,
Nervenäther, Lebensgeister und dergl. Beides verdeckt, was es nicht
aufzuheben vermag.6
Das
Phänomen der Gnosis betrachten wir als Exemplifikation jener
'geschichtlichen Notwendigkeit' um die es in diesem Kapitel geht. Wir
haben gesehen, dass der 'Aufschrei des Todes' als Erfahrung jeder
frühen Menschengemeinschaft auf Dauer nicht durch den naiven
Monismus in Zaum zu halten ist. Diese Überlegung konnte nicht durch
konkrete Kulturen belegt werden. Die Entstehungsstunde des frühesten
Dualismus kann nicht genau bestimmt werden, schon weil sie
wahrscheinlich aus der Zeit vor der Entstehung der Schrift stammt,
aus der wir ja keine Dokumente haben. Von der Gnosis hingegen,
besitzen wir einen relativ gut erhaltenen Quellenbestand7.
Wir folgen Jonas in seiner pragmatischen Bestimmung des Phänomens,
also in seiner Definition der Sache über ein Vorverständnis,
das niemals völlig gerechtfertigt werden kann. Die gefundenen
Phänomene werden zwar der Definition entsprechen, sie aber nicht
berichtigen können. Er ist sich dieses Abgrenzungsproblems bewusst8
wenn er die Gnosis auf ihre 'Daseinshaltung' hin untersucht. Diese
Gnosis also ist die religiöse Manifestation des bislang größten
dualistischen Exzesses. Die Grunderfahrung die sie verursacht hat ist
nicht nur die allgemein menschliche Erfahrung der Sterblichkeit,
sondern die mehr spezifische Erfahrung 'kosmischer Einsamkeit'
(streng genommen ist dieser Terminus unglücklich gewählt, denn was
er ausdrücken will ist gerade, dass der einsame menschliche
Beobachter aufhört sich als Teil des kosmos,
der Weltordnung zu empfinden). Diese Erfahrung kann in den
unterschiedlichsten kulturellen Kontexten auftauchen. Jonas zitiert
in diesem Zusammenhang aus Pascal's Pensées, eines der
eindringlichsten Zeugnisse menschlicher Einsamkeit:
Quand
je considère la petite durée de ma vie, absorbée dans l'éternité
précédant et suivant, le petit espace que je remplis et même que
je vois, abîmé dan l'infinie immensité des espaces que j'ignore et
qui m'ignorent, je 'effraie et m'étonne de me voir ici plutôt que
là, car il n'y a point de raison pourquoi ici plutôt que là,
pourquoi à présent plutôt que lors. Qui m'y a mis? Par l'ordre et
la conduite de qui ce lieu et ce temps a-t-il été destiné à moi?
9
Es
ist die Gefahr des Nihilismus, und Jonas wird später die
Grundübereinstimmung zwischen dem modernen Existentialismus und der
Gnosis einsehen. Für Jonas bezeichnet 'Gnosis' eine
'Daseinshaltung', ein Vorläufer seines späteren Begriffes
'Seinsdeutung'. Indem die Gnosis eine konkrete Reaktion (die
Entweltlichungstendenz) auf eine konkrete historische Lage darstellt,
kann an ihr die geschichtliche Notwendigkeit der Abfolge von
Seinsdeutungen illustriert werden. Der bereits vorhandene Dualismus10
musste sich, katalysiert durch die miesen Welterfahrungen, drastisch
verschärfen. Über die historische Ursache der Gnosis ist die
Forschung nicht einer Meinung11.
Jonas geht davon aus, dass sie eine mittelbare Folge des Untergangs
der griechischen Polis war:
Immer
blieb wenigstens der Kosmos die große Polis für seine Bürger, die
Geschöpfe, immer blieb er der vollkommene Gott. Auf den Menschen
rückübersetzt: die große innerweltliche Daseinsmöglichkeit, die
das Griechentum für die Eingliederung des Menschen in die Welt
gewonnen hatte, blieb auch in der eingetretenen Brüchigkeit des
tatsächlichen Verhältnisses theoretisch und der aufgebotenen
Haltung nach ungebrochen. Demgegenüber quillt im Gnostizismus [...]
etwas völlig Anderes herauf: ungeheure Daseins-Unsicherheit,
Welt-Angst des Menschen, Angst vor der Welt und vor sich selbst.12
Bei
der Gnosis geht es laut Jonas um eine genau abgegrenzte, spezifische
'Seinserfahrung'; hier wäre also der Ort, die Verschränkung
historischer Gegebenheiten, psychologischer Auswirkungen und
ontologischer Verwurzelung zu illustrieren. Der Nachweis, dass die
allgemeinste Disziplin genetisch bedingt ist durch ihren historischen
Kontext, kann nur lehrreich sein.
Bevor
wir näher auf den Dualismus in der Gnosis eingehen, sei angedeutet,
dass der andere Aspekt den ich in meiner Rekonstruktion systematisch
zu berücksichtigen versuche, der geistige Akt der den Bogen
überspannt und die Einheitserfahrung trotz des Dualismus
wiederherstellt, unmittelbar danach behandelt wird. In dem Kontext
der Gnosis geht es dabei natürlich um die Erlösung,
die Befreiung des Pneuma aus dem Leib, die Hoffnung aus dem irdischen
Gefängnis befreit zu werden. Bei Jonas liegt der Nachdruck nicht auf
diese narrative Leistung, die zeigt wie der gnostische Dualismus
gelebt wird, sondern auf die 'Seinserfahrung', die zeigt wie er
zustande kommt. Vielleicht liegt das daran, dass Jonas die Gnosis in
seiner Interpretation bewusst für die Philosophie salonfähig
gemacht hat indem er ihr die 'mythologischen Verschroben- heiten'
abgestreift hat13.
1Eine
allgemeine Einführung in die Gnosis bietet Micha Brumlik, Die
Gnostiker. Interessant ist, dass er wie Jonas kommend aus der
Gnosisforschung zu einer Kritik an Heidegger kommt: „Noch in einer
weiteren Hinsicht steht Heidegger trotz seiner orthodox christlichen
Sündenlehre in der Schuld gnostischen Denkens: Jene Formen von
Verfehlung und Versuchung, die für Heidegger grundsätzliche
Elemente des menschlichen Lebens bilden, entbehren jedes
konkreteren, ethischen Bezuges“ (S. 331).
2Zu
den persönlichen Motive: Siehe Micha Brumlik, Ressentiment –
Über einige Motive in Hans Jonas' frühen Gnosisbuch. In:
Prinzip Zukunft, S. 113-128. Er legt u.a. dar, wie Jonas die
Hoffnung in der Gnosis nicht wahrhaben wollte (wie sie z.B. im
valentianischen 'Evangelium veritatis' enthalten ist, eine Schrift
die im übrigen erst 30 Jahre nach Jonas' Dissertation entdeckt
wurde).
3Einzelne
Teile waren zuvor als Artikel publiziert.
4U.a.
der Artikel 'Gnosis, Existentialismus und Nihilismus', abgedruckt im
ZNE, S. 4-25.
5Vgl.
R. Löw, Die neuen Gottesbeweise, Augsburg 1994, S. 92.
6A.
Schopenhauer, Parerga I, Fragmente zur Geschichte der Philosophie,
§8. Gnostiker. Diese Analogie von Schopenhauer wird auch von Jonas
nachvollzogen.
7Die
klassischen Texten, die Kommentare der Kirchenväter und die in 1945
entdeckte Nag-Hammadi Codices. Jonas hat diese in dem zweiten Teil
seiner Gnosisarbeit berücksichtigt.
8Siehe
G II, S. 328.
9Pensée
205. Vgl. 347. Zitiert in PL, S. 348. Darf man so etwas in eine
andere Sprache übersetzen?
10Die
Spaltung im Ursprung der Welt und deren Aufhebung ist bekanntlich
bereits bei Platon belegt, etwa im Symposion 15, 189c-193d oder am
Schluß der Nomoi 12; bei Empedocles heißt es: „Ein weiblicher
Daimon, der die Seelen mit fremdartiger Fleischeshülle umkleidet“
(Diels/Kranz, Nr. B 126); im Christlichen Bereich lässt sich pars
pro toto Epf 2,14f heranziehen: „Denn er ist unser Friede, der aus
beiden eines gemacht hat...“
11Manche
meinen, die Gnosis sei jüdischen Ursprungs. So Prof. Quispel in
einer Diskussion mit Jonas (Siehe G II, 358). Laut Jonas ist die
Gnosis entstanden 'at the fringe of judaism'; jedoch ist sie
Ausdruck einer selbständigen Denkströmung: Jonas spricht von „the
incipient Gnostic flood“ und „the mighty gnostic tide“(ebd).
Vgl. G I, S. 74: „In den Jahrhunderten um die Zeitenwende erwuchs
in den Gebieten östlich des Mittelmeeres bis tief nach Asien hinein
ein neues Welgefühl – soviel wir sehen in spontaner
Gleichzeitigkeit auf weitem Raume -, mit ungeheurer Macht und aller
Verworrenheit des Anfangs hervorbrechend und naturgemäß nach
eigenem Ausdruck ringend.“ Kurt Rudolph definiert in seinem
Standardwerk die Gnosis als „eine
historische Kategorie, die eine bestimmte Form spätantiker
Weltanschauungen erfassen will und dabei an deren eigenes
Selbstverständnis anknüpft.“(S. 64).
12G
I, S. 143. Vgl „die pantheistische Illusion der Antike ist
zerbrochen“ (S. 170).
13Diese
Methode hat Jonas bereits in AF
entwickelt. „[dass] selbst den entlegensten und metaphysischten
dogmatischen Hypostasierungen irgendein konkreter ursprünglicher
Erfahrungsboden zugrundeliegt.“ (S. 80). Die Dogmen müssen
'entmythologisiert' werden um sie für die Daseinsanalyse zugänglich
zu machen. Der Begriff 'Entmythologisierung' wurde übrigens später
von Rudolf Bultmann adoptiert. Vgl dazu: Poliwoda 2005, S.
28.
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