Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) (Photo credit: Wikipedia) |
„Reine
Natur“, „reines Bewußtsein“, Materialismus, Idealismus, selbst
Dualismus waren nützliche Fiktionen; in ihrem Windschutz wurden, und
werden weiterhin, wichtige Einsichten gewonnen.2
Die
heutige Auffassung ist somit nicht per se 'weiter' als die, die vom
Laufe der Geschichte überholt wurden; sie ist nicht per se adäquater
als alle ihre Vorgänger, geschweige denn sie enthält deren Wahrheit
aufgehoben als Moment in sich. Jonas erteilt eine klare Absage an den
Dialektischen Eifer einer Systemphilosophie für die alles und jenes
vermittelt
sein muss.
Dennoch
hält Jonas an der Idee einer notwendigen Abfolge von Theorien fest.
Seine Ablehnung der absoluten Dialektik darf nicht darauf hinaus
laufen, dass alles Geschichtliche bestenfalls eine äußere, von uns
hinein projizierte Gesetzlichkeit hat, an sich aber nur eine
Ansammlung kontingenter Tatsachen ist.
Warum
hält Jonas seine Überlegungen denn für dermaßen anders als die
Hegels, dass er dessen System nicht ergänzen will, sondern für
überholt hält:
Der erste Schritt [in Hegels
universaler Dialektik] ist genau das, wozu wir uns in unserem
kosmogonischen Vermuten mehr und mehr gedrängt sehen: die extreme
Selbstentäußerung des Schöpfergeistes im Anfang der Dinge. Die
Fortsetzung jedoch – Hegels majestätische Entwicklung allen
Werdens Schritt für dialektischen Schritt auf uns hin und durch uns
hindurch zur Vollendung, überhaupt die ganze erbauliche Idee einer
intelligiblen Gesetzlichkeit eines
Gesamtprozesses, der von vornherein seines Erfolges versichert ist,
müssen wir ernüchterteren Zuschauer des großen und des kleinen
Welttheaters – der Natur und der Geschichte – verneinen. Zu
erdrückend ist die Gegenevidenz. (MGS, 51).
Diese
Gegenevidenz ist die unmittelbare Erfahrung eines 'an sich' Bösen.
Wenn eine unmittelbare Erfahrung, will sagen eine Erfahrung hinter
die wir nicht zurückgehen können und wollen,
lehrt dass die Welt nicht perfekt ist, dass wir uns keine Vernunft
vorstellen, geschweige denn philosophisch postulieren können, dessen
List es wäre, Auschwitz zu veranlassen, kann das nicht ohne
Konsequenzen für die Grundlagen der Philosophie bleiben. Das radikal
Böse kann auf keine Weise in die Dialektik aufgenommen werden, und
impliziert so eine radikale Kontingenz. Der Begriff dieser radikalen
Kontingenz kann nicht in das dialektische System aufgenommen werden,
ohne den logischen Grundcharakter zu zerstören. Hegels dialektische
Logik, durch die Methode der bestimmten Negation vorangetrieben, kann
bei 'Zufällen', nicht stehen bleiben. „Das Dialektische macht
[...] die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens aus und
ist das Prinzip, wodurch aller immanenter Zusammenhang und
Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt, so wie in ihm
überhaupt die wahrhafte, nicht äußerliche Erhebung über das
Endliche liegt“3
Der
Stellenwert von Begriffen bei Jonas ist bescheidener, und sein
System, wenn man es so nennen kann, hat nicht den Anspruch darauf,
alle wesentlichen Momente der Geschichte in Begriffen zu erfassen.
Der
Widerspruch eines sich entfaltenden Geistes, der dennoch den
heterogenen Zufall dulden muss4,
ist weniger gravierend als der 'gefühlte' Widerspruch, dass die
Grausamkeiten irgendwie notwendig sind, und dass der Geist sich darin
entwickelt.
Wir betrachten nun Hegels Überlegungen etwas genauer. Für Hegel setzt jede philosophische Betrachtung der Geschichte die Vernünftigkeit derselben voraus:
Der
einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist aber der einfache
Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es
also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei.5
Hegel weiß, dass ohne Festlegung
auf den Glauben an die Vernünftigkeit sich die Geschichte nicht
untersuchen ließe:
Wenn
man nämlich nicht den Gedanken, die Erkenntnis der Vernunft, schon
mit zur Weltgeschichte bringt, so sollte man wenigstens den festen,
unüberwindlichen Glauben haben, daß Vernunft in derselben ist, und
auch den, daß die Welt der Intelligenz und des selbstbewußten
Wollens nicht dem Zufalle anheimgegeben sei, sondern im Lichte der
sich wissenden Idee sich zeigen müsse.6
Ist das so? Die Denkfigur, dass
Vernünftiges nur Vernünftiges erkennen kann, darf hier nicht
vorschnell angewendet werden. Wenn wir eine Geschichte erzählen, ist
diese zwangsläufig strukturiert durch den Personenbegriff und die
Chronologie (siehe jedes Märchen, und insbesondere 'moderne'
Literatur, die eben mit diesen Zwängen spielt), aber das heißt noch
lange nicht, dass die Weltgeschichte nur im Lichte der sich wissenden
Idee erzählt werden kann. Über historische Personen kann so
gesprochen werden wie über Zeitgenossen, es bedarf nur manchmal mehr
Phantasie. Wenn die Geschichte jenen eisernen Gesetzen folgt, wir
diese aber nicht in uns selbst wiedererkennen, kommt es bei Hegel zu
Trauer:
Man kann [... ] die Empfindung zur
tiefsten, ratlosesten Trauer steigern, welcher kein versöhnendes
Resultat das Gegengewicht hält, und gegen die wir uns etwa nur
dadurch befestigen, oder dadurch aus ihr heraustreten, indem wir
denken: es ist nun einmal so gewesen; es ist ein Schicksal; es ist
nichts daran zu ändern; und dann, daß wir aus der Langeweile,
welche uns jene Reflexion der Trauer machen könnte, zurück in unser
Lebensgefühl, in die Gegenwart unsrer Zwecke und Interessen, kurz in
die Selbstsucht zurücktreten, welche am ruhigen Ufer steht und von
da aus sicher des fernen Anblicks der verworrenen Trümmermasse
genießt.7
Die
gegenwärtigen Zwecke dieser normal Sterblichen müssen ihrerseits
nicht verstanden werden als Vollstrecker des Weltgeistes, sondern als
'zurücktreten in die Selbstsucht' primär als etwas, das als solche
keinen Einfluss auf ihn nimmt. Wie kommt es denn, dass die
Protagonisten der Weltgeschichte Menschen sind? Hegels Lösung ist
es, einen Wesensunterschied zu definieren und von 'großen Menschen'
zu sprechen:
Dies sind die großen Menschen in
der Geschichte, deren eigne partikulare Zwecke das Substantielle
enthalten, welches Wille des Weltgeistes ist.8
Dieser
'Wille des Weltgeistes' ist der Aspekt menschlichen Tuns, welcher
sich von der Natur abhebt:
Die Veränderungen in der Natur,
so unendlich mannigfach sie sind, zeigen nur einen Kreislauf, der
sich immer wiederholt; in der Natur geschieht nichts Neues unter der
Sonne, und insofern führt das vielförmige Spiel ihrer Gestaltungen
eine Langeweile mit sich. Nur in den Veränderungen, die auf dem
geistigen Boden vorgehen, kommt Neues hervor.9
Hier
zeigt sich klar, wie Hegel nicht versucht, Geist in Kontinuität mit
Natur zu denken, wie es Jonas' Anliegen ist. Die geistigen
Neuerungen, durch 'große Menschen' propagiert, bleiben als Stufen
menschlicher Seinsdeutung Veränderungen in der Natur, und müssen
auch als solche verstanden werden. Eine Naturgeschichte der Freiheit
darf nicht auf die Perspektive des Geistes beharren.
Im
Folgenden werde ich Jonas' Erzählung von der Entwicklung der
menschlichen Seinsdeutung nachvollziehen. Als erster Stufe begegnen
wir dem Panvitalismus (oder Animismus) den Jonas zu der Zeit des
Gilgamesh-Epos (12. Jahrhundert v. Chr.) ansiedelt; dann dem
Dualismus der zunächst als praktische Antwort auf die Dichotomie
zwischen dem erwachenden monotheistischen Gott und dem Elend der Welt
auftrat, dann theoretisch als Substanzendualismus bei Descartes;
danach dem Materialismus sowie dem Idealismus (die Jonas als
Verfallsprodukte des Dualismus ansieht).
Wir
können aus einer solchen historischen Betrachtung lernen, insofern
wir die Geschichte immer wieder unvoreingenommen betrachten. Die
Identifikation einer notwendigen Abfolge von Systemen hat eine
Plausibilität für die letztlich unser Selbstverständnis bürgt und
nicht die 'objektive' Geschichte.
1In
den Worten von Herbert Schnädelbach: „so versuchte Hegel, das
entstehende historische Bewußtsein als das Bewußtsein von
Historischem, das zugleich um seine eigene Historizität weiß, noch
einmal in einen absoluten Historismus oder in eine Philosophie des
selbst historischen Absoluten, der >>Vernunft in der
Geschichte<<. Diese von Hegel beanspruchte Einheit des
Vernünftigen und Historischen, des Systems und der Geschichte
zerfiel notwendig aus Gründen, die sich wesentlich aus der Einsicht
in die unübersteigbare Endlichkeit und Kontingenz unserer Selbst
als zugleich natürlicher, geschichtlicher und vernunftbegabter
Wesen ergeben.“ (Hegel zur Einführung, S. 154f). Zu diesen
Gründen gehören auch die zwei furchtbaren Weltkriegen des 20.
Jahrhunderts, die für Jonas die Absage an Hegel unausweichlich
machten. Jonas beschreibt den Idealismus inklusive Hegelianismus als
'Zerfallprodukt' des Dualismus wie wir unten sehen werden. Er
hingegen will die integrale monistische Ontologie in ihr
Erstlingsrecht setzen. Ob er da recht hat, sei dahingestellt (Siehe:
Rolf-Peter Horstmann, Hegels Ordnung der Dinge. Die 'Phänomenologie
des Geistes' als transzendentalistisches Argument für eine
monistische Ontologie und seine erkenntnistheoretischen
Implikationen. In Hegelstudien 41, 9-50): „Als Hegels
metaphysische Grundidee wird hier seine Überzeugung bezeichnet, daß
nur eine monistische Theorie der Wirklichkeit in der Lage sei, ein
konsistentes Gesamtweltbild zu liefern, welcher weder von
unausweisbaren Annahmen (irgendwelchen sog. 'Fakten') ausgeht noch
zu letztlich unakzeptablen reduktionistischen Konsequenzen führt
(durch Privilegierung irgendwelcher einseitigen Gesichtspunkte wie
etwa der Forderung nach einem naturalistischen Weltmodell)“ (S.
23). Doch glaube ich dass Jonas' Ablehnung nicht reflexiv, sondern
emotional, ja durch physiologischer Abneigung motiviert ist: der
Gedanke an einen absoluten Geist ist nicht auszuhalten wenn er auch
durch Laufgräben, KZs und Gulags marschiert.
2Materie,
Geist und Schöpfung, S. 64. Das soll aber nicht heißen, dass
diesen Fiktionen die in unserer Zeit von Jonas selbst entwickelte
Philosophie als real gegenüber steht. Vielmehr lehrt uns der Blick
auf die Geschichte der Philosophie ein gesundes Maß an
Bescheidenheit.
3Werke
8, S. 173. Vgl. Konrad Utz, Die Notwendigkeit des Zufalls, Hegels
spekulative Dialektik in der »WL«.
4Natürlich
muss der Geist (das Selbstbewußtsein) auch bei Hegel den 'Zufall'
dulden: er kann sich nicht als das 'Wesen' der Natur ansehen, aber
er hat sich als Körper zu verstehen. Dies bringt gerade die
Dialektik in Gang, die zu Wesenserkenntnis führt. Was ich meine,
ist dass der Stellenwert des Zufalls (des Un-fassbaren) nicht
hinreichend durch die Figur des Dialektischen Fortschritts eingeholt
werden kann, weil sie uns auch erschüttert.
5Hegel,
Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1961, S. 49.
6Ebd,
S. 50.
7Ebd,
S. 63-4.
8Ebd,
S. 75.
9Ebd.,
S. 105. Man betrachte den krassen Unterschied mit der
Evolutionstheorie. Darwin's Origin of Species
wurde 1859, also 28 Jahre nach Hegels Tod veröffentlicht.
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