Wir haben skizziert was
laut Jonas eine Ethik für die technologische Zivilisation leisten
muss, und wie sie begründet werden kann. Unsere durch die
Technologie veränderte Welt wirft uns in eine neuartige Praxis
hinein, deren Regeln nicht von der tradierten Ethik aufgestellt
werden können. Der Kompass ist die geahnte Gefahr, die zugleich
unser zu bewahrendes Menschenbild aufleuchten lässt. Als Philosoph
will Jonas aber etwas mehr liefern: seine Bemühungen um eine
neuartige Ethik zielen darauf ab, deren absolute Gültigkeit zu
beweisen. Jonas versteht das 'Prinzip Verantwortung' ausdrücklich
als Argument (PV, 10); er will etwas „härteres“ bieten, denn
„was dem Thema einigermaßen gerecht werden soll, muß dem Stahl
und nicht der Watte gleichen.“(ebd.).
Wir haben in diesem
Kapitel Jonas’ Analyse der Neuartigkeit der Lage nachvollzogen, und
fanden uns logisch dazu gezwungen, die Neuartigkeit als Merkmal
unserer Interpretation zu lesen, also eine hermeneutische
Subjektivierung der Argumentation vorzunehmen:
α Die
Technologie muss als selbstständiger Fortschrittsprozess (1.1)
interpretiert werden, der die Praxis prädisponiert;
β Die Praxis
kann nicht länger vernünftig interpretiert werden ohne einen
spezifisch kollektiven Bereich in ihr anzuerkennen (1.2); das
Konzept der kollektiven Handlung muss die Praxis vom Naturgeschehen
abgrenzen.
γ Die
prinzipielle Orientierungslosigkeit ist ethisch, nicht mehr bloß
metaphysisch (1.3).
δ Eine
Heuristik der Furcht muss daher zum Gebot werden, und nicht mehr bloß
eine Tugend sein (1.4).
ε Ein Prinzip
muss ontologisch bewiesen werden, aus dem ethische Gebote für
einzelne Handlungen abgeleitet werden können (1.5).
Unter welcher Bedingung
können wir von der Neuartigkeit der modernen Lage sprechen? Der
Prozess der Technologie muss sich über eine bestimmte Schwelle
hinaus entwickelt haben, so weit nämlich, dass ihr eine
Eigengesetzlichkeit unterstellt werden muss. Sie steht uns nicht zu
beliebiger Verfügung (das galt schon für das Feuer) – doch die
moderne Technologie kann mit einer solchen Auffassung die Welt nicht
länger befriedigend verstehen.
Unsere Lesart versteht die
Analyse der Technologie und ihrer Folgen also als eine Diagnose des
moralischen Selbstverständnisses. Dieses muss sich mit der
neuartigen Praxis wandeln. Die philosophische Aufgabe ist es, die
beschriebene hermeneutisch prekäre Lage zu durchdenken, um dem
moralischen Selbstverständnis, das sich an die Tatsachen anpassen
muss, prinzipiell einen Vorsprung zu verleihen. Ein festes Prinzip
ist dafür vonnöten.
Meine Interpretation rückt
gerade durch das hermeneutische Vorzeichen das individuelle
Selbstverständnis in den Mittelpunkt, und damit ein anderer Aspekt
des Problems. Einzig in dem Individuum kann es Konflikte zwischen
Verantwortung und Freiheit geben. Es muss geklärt werden, wie diese
Konflikte von Jonas’ Prinzip her gedeutet werden müssen. Dazu muss
erstens Jonas’ Verständnis von der
menschlichen Freiheit aufgeklärt werden, und
zweitens die ontologische Begründung
der Verantwortung nachvollzogen werden.
Jonas hat in seiner
philosophischen Biologie seine Überlegungen über den Begriff der
menschlichen Freiheit dargelegt. Wir werden sehen, dass Jonas’
biologischer Freiheitsbegriff das idealistische Problem der
Verursachung vermeidet, andererseits jedoch nicht dem Reduktionismus
anheim fällt. In gewisser Weise hat Jonas seine Philosophie der
Freiheit aus dem phänomenologischen Grundsatz entwickelt, zu der
Erfahrung zurückzukehren. Dabei macht er es sich nicht zu leicht mit
einer idealistischen Lösung, die alles dem Geist prinzipiell Fremdes
aus ihrer Ontologie bannt1,
sondern versucht vom Standpunkt des Materialismus her dem Phänomen
der Freiheit gerecht zu werden. In Teil II werden wir also den
Freiheitsbegriff der Philosophie des Organischen darstellen. Er ist
die anthropologische Grundkoordinate, mit der alle Überlegungen
vereinbar sein müssen. Insbesondere muss er der Ethik zugrunde
gelegt werden; wir werden also in Teil III fragen, ob der in der
Philosophie des Organischen entwickelten Freiheitsbegriff mit dem
ontologischen Beweis im 'Prinzip Verantwortung' kompatibel ist.
1Jonas
sagt, dass ein solcher konsequent durchgeführter Idealismus immer
auf einen Solipsismus hinausläuft. PL, 40-41, Fußnote 2.
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